Als die Stimmauszählung Ex-Vizepräsident Joe Biden am frühen Freitagmorgen in den umkämpften Bundesstaaten Georgia und Pennsylvania erstmals in Führung vor US-Präsident Donald Trump saßen, war das kollektive Aufatmen der Demokraten im ganzen Land zu vernehmen. Sollte nicht noch eine völlig unvorhersehbare Überraschung geschehen, wird der 77jährige am 20. Januar als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden. Es ist ein Ergebnis, auf das Biden lange warten musste – und das nicht nur, weil die Auszählung der Stimmen in Teilen der USA bereits Tage dauert.
Bidens Sieg ist der Höhepunkt einer politischen Karriere, die vor fast einem halben Jahrhundert in Delaware ihren Ausgangspunkt nahm. 1972 gewann der junge Anwalt denkbar knapp einen Senatssitz – und behielt ihn für die nächsten 36 Jahre. Weitere acht Jahre diente er Barack Obama als Vizepräsident. Nun zieht er aller Voraussicht nach selbst ins Oval Office ein – beim dritten Versuch. Bereits 1988 und 2008 bewarb er sich im die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten, jeweils mit überschaubarem Erfolg. Jetzt, nach dem Trauma von vier Jahren Donald Trump, wandte sich seine Partei doch noch an ihn, um das Weiße Haus zu erobern.
Biden war der Konsenskandidat. Nicht zu links, nicht zu rechts, immer genau im Mainstream der Partei. Das brachte ihm auch den Vorwurf ein, keine wirkliche Begeisterung zu erzeugen. Tatsächlich gelang es dem Kandidaten im Vorwahlkampf zunächst kaum, Enthusiasmus unter den Demokraten zu erzeugen, Die frühen Wettbewerbe in Iowa und New Hampshire verlor er deutlich. Die Energie, so schien es, befinde sich auf dem linken Flügel der Partei. Doch die Vorwahl in South Carolina drehte das Bild. Dort gewann er deutlich – getragen von der Unterstützung des überwiegen Schwarzen Elektorats. Der verlässlichste Teil der demokratischen Basis sicherte ihm so die Nominierung – und vermutlich auch die Präsidentschaft.
Trotzdem: Der Vorwurf der mangelnden Begeisterung begleitete Biden während des gesamten Wahlkampfs. Als die Coronapandemie über die USA hinwegspülte, verbrachte der Kandidat Wochen in seinem Haus in Delaware, verließ es nur selten und unter höchsten Sicherheits- und Hygieneauflagen. Das brachte ihm den Vorwurf ein, nicht hart genug zu kämpfen. Sein Team blieb dennoch bei der Taktik. Schließlich bildete das Vorgehen einen sichtbaren Kontrast zum Präsidenten, der meist ohne Maske und Vorsicht durchs Land tourte, während die Infektions- und Totenzahlen nach oben schossen. Die Tragödie ermöglichte es Biden, sich als verantwortungsbewusster Staatsmann zu präsentieren – und Mitgefühl für das Leid des Landes zu zeigen.
Diese Fähigkeit hat er ohnehin. Biden hat ausreichend Erfahrung mit Schicksalsschlägen. Kurz nach seinem ersten Wahlsieg starb seine erste Ehefrau gemeinsam mit seiner Tochter bei einem Verkehrsunfall. Seine beiden Söhne überlebten schwer verletzt. Biden wurde nicht in Washington für sein neues Amt vereidigt, sondern an ihrem Krankenhausbett. Die nächsten Jahre pendelte er jeden Tag von Wilmington, Delaware, mit dem Zug nach Washington, um als alleinerziehender Vater seine Kinder ins Bett zu bringen. Während seiner Zeit als Vizepräsident starb dann einer seiner Söhne an Krebs. Sein anderer Sohn hat mit Sucht zu kämpfen. Biden kennt das das Gefühl der Trauer – in einer Zeit, da Covid bereits mehr als 230.000 Amerikaner das Leben gekostet hat, trifft er deshalb meist den Ton, wenn er über das Leid im Land spricht. Auch das dürfte ihm den Sieg ermöglichst haben.
Was für ein Programm erwartet die USA also unter einem Präsident Biden? Das ist nicht ganz einfach vorherzusagen. Als Senator aus Delaware verteidigte er die Interessen der Kreditkartenunternehmen, als Präsidentschaftskandidat schrieb er sein Programm gemeinsam mit dem selbsterklärten demokratischen Sozialisten Bernie Sanders. Auf dem Papier geht er mit dem progressivsten Programm seit Jahrzehnten an den Start. Dem Wunsch seiner Partei nach größeren Veränderungen in der amerikanischen Wirtschaftspolitik verschloss er sich nicht grundsätzlich, er bremste nur hier und da. Keine Vollverstaatlichung des Gesundheitswesens etwa, aber den Aufbau einer staatlichen Krankenversicherungsoption.
Solche rhetorischen Mittelpositionen machte Biden anschlussfähig nach allen Seiten. Sanders unterstützte ihn genauso, wie der ehemalige – republikanische – Gouverneur von Ohio, John Kasich. Dieser breite, lagerübergreifende Rückhalt, gepaart mit hervorragenden Umfragewerten, ließen Beobachter auf einen überwältigenden Sieg am Dienstag schließen. Es sollte anders kommen.
Zumindest mit Blick auf das Wahlkollegium tat sich Biden zeitweise schwer – so zumindest der Eindruck. Donald Trump konnte deutlich mehr Anhänger mobilisieren, als Beobachter es vor der Wahl für möglich gehalten hätten. Das ließ die Entscheidung zunächst knapp aussehen, auch wenn Biden die landesweite Popular Vote mit deutlichem Abstand gewann. Kein Kandidat erhielt je mehr Stimmen bei einer Präsidentschaftswahl als er. Damit stellte er den Rekord von Barack Obama ein.
Bidens Partei tat sich indes schwerer. Anstatt der erwarteten „Blauen Welle“, die neben einem neuen Präsidenten auch eine demokratische Mehrheit in den Senat spülen würde, steht nun wahrscheinlich ein knapper Wahlsieg des Herausforderers und völlige Unklarheit in der oberen Kongresskammer. Den Demokraten gelang es nicht, wichtige Rennen für sich zu entscheiden, überraschend viele vermeintlich gefährdete Senatoren blieben im Amt. Im Moment sieht es danach aus, dass die Republikaner ihre Mehrheit knapp verteidigen können.
Für Bidens ambitionierte Agenda ist das ein Problem. Große Veränderungen sind nicht zu erwarten. Der künftige Präsident muss sich darauf einstellen, bei jedem Vorstoß nach Kräften von der Opposition blockiert zu werden. Damit sind Enttäuschungen für Bidens Anhänger vorprogrammiert. Die breite Koalition, die ihn wohl ins Amt gebracht hat, wird es schwer haben, zusammenzubleiben.
Julian Heißler