Ich habe das Wort Wahlheimat nie gemocht. Es suggeriert einen freien Willen, den ich in Hinblick auf Amerika nie verspürte. Ich hatte keine Wahl. Amerika hat mich gewählt, nicht umgekehrt. Die einzige Entscheidung, die ich treffen konnte, war der Zeitpunkt meiner Abreise aus meiner südsteirischen Heimat. Dass ich weggehen würde, war da längst entschieden.
Zu diesem Zeitpunkt kannte ich niemanden in den USA und habe auch kein Englisch gesprochen. Ja, meine Nichtkenntnis des Englischen war der eigentliche Anstoß, im Herbst 1999 für einen sechsmonatigen Sprachaufenthalt an einer Highschool im US-Bundesstaat Maine aufzubrechen. So begann sie also, meine Zeit in Amerika ...
Meinem Vater fiel das Englische übrigens auch nicht leicht. Als er einmal in dem Schülerheim, wo ich wohnte, anrief, antwortete ein Freund: „He is at breakfast!“ Worauf mein Vater meiner Mutter verärgert zurief: „Jetzt schick ma den Buam zum Englischlernen nach Amerika und am Samstagfrüh ist er schon wieder auf irgendeinem Fest!“ Zu seiner Verteidigung: Ich habe in Lebring tatsächlich selten Feste ausgelassen.
Mittlerweile lebe ich seit vielen Jahren in den USA. Und wenn ich heute so zurückblicke, gab es natürlich eine Vielzahl weiterer Gründe, die meine Wahl mitbestimmt haben.
Da ist zunächst einmal meine Liebe zur Geschichte. Amerika, im Gegensatz zu Österreich, „lebt“ Geschichte. Das hat einen Grund: Seit dem 18. Jahrhundert gab es in den USA keinen Regimewechsel. Seit fast 250 Jahren existiert ein und dasselbe Regierungssystem. Das schafft ununterbrochene demokratische Traditionen und Normen. So ist die Meinung von George Washington und anderer historischer Figuren zu einem Thema heutzutage oft genauso wichtig oder sogar wichtiger als die des amtierenden Präsidenten. Hätte Thomas Jefferson Ja zum Irakkrieg gesagt? Was würde Alexander Hamilton von dem letzten Konjunkturpaket halten? Was Kaiser Franz Joseph zur Flüchtlingskrise 2015 gesagt hätte, interessiert dagegen in Österreich niemanden.
Einerseits kann diese Bindung an die eigene Geschichte einschränken. Auf der anderen Seite stärkt sie aber das Gemeinschaftsgefühl der Amerikaner und macht die politischen Institutionen des Landes krisensicherer. Das ist auch der Grund dafür, dass ich es nur schwer ertrage, wenn ich in Österreich zum hundertsten Mal höre: „Die Amis haben ja keine Kultur!“ Das Gegenteil ist der Fall: Die USA zeichnen sich mit Ausnahme Großbritanniens durch die älteste politische Kultur aller westlichen Demokratien aus. Anders als in Österreich findet sich diese Kultur aber nicht in verstaubten Titeln und vergoldeten Büros, sondern wird tagaus, tagein gelebt.
Daher lehne ich jede Schwarz-Weiß-Malerei der USA ab. Amerika ist weder gut noch böse. Vielmehr ist es seit seiner Entstehung ein Land voller Grautöne, geprägt von Widersprüchen. Es ist ein konservativer und revolutionärer Staat zugleich. Nur in den USA kann man sich der Freiheit verpflichtet fühlen und zugleich Menschen versklaven, wie es in den Südstaaten vor 1865 gang und gäbe war. Nur in den USA kann man das Ideal der Menschenwürde hochhalten und zugleich Terrorverdächtige jahrelang ohne Gerichtsprozess in Guantanamo Bay einkerkern. Nur Amerika kann federführend bei der Emanzipation der Frauen sein und gleichzeitig vielleicht demnächst auf Bundesebene legale Schwangerschaftsabbrüche abschaffen. Und kein anderes Land der Erde schafft es, den Globus gesellschaftlich nur annähernd so stark zu mobilisieren: Man denke an „MeToo“ oder „Black Lives Matter“. Ähnliches gilt für die konservative Gegenrevolution: Trump mobilisiert mit seiner weißen Identitätspolitik weltweit die Rechte wie kein anderer Politiker.
Seit ihrer Gründung kämpfen die USA darum, den hohen Idealen zu genügen, denen sie sich in der Unabhängigkeitserklärung verschrieben haben. Oft wird ein Zukurzkommen dieser Ideale als Heuchelei und Versagen des gesamten amerikanischen Systems abgetan. Aber das ist falsch. Denn das Land hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten zwar mit Rückschlägen, aber stetig in Richtung mehr Freiheit und Demokratie für alle ihre Bürger entwickelt. Oder wie es weniger schmeichelhaft Winston Churchill gesagt haben soll: „Den Amerikanern kann man vertrauen, das Richtige zu tun, nachdem sie alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.“
Neben der Geschichte ist es vor allem Amerikas militärische Supermacht, die mich fesselt. Das hat auch biografische Gründe. Wie viele andere wuchs ich in den 1990er-Jahren auf, dem Höhepunkt amerikanischer „Softkultur“ und „Hard Power“ (Militär und Wirtschaft). Die Balkankriege, genauer gesagt das Massaker von Srebrenica 1995 und die Unfähigkeit Europas, diesem Morden vor seiner Haustür Einhalt zu gebieten, waren für mich ein einschneidendes Erlebnis. Bis heute erfüllt mich die Ohnmacht der Europäer in den 1990er-Jahren mit Zorn. Erst als die Amerikaner sich zum Militäreinsatz entschlossen, endete das Blutvergießen. Und dank den USA hält bis heute in Südosteuropa ein fragiler Friede.
Dass Bomben keine Patentlösungen sind, ist mir spätestens seit dem Irakkrieg 2003 ebenso klar. Dennoch sind meine Arbeitserfahrungen in den USA mehr oder weniger alle mit dem Thema Krieg, mit globalen Konflikten und der US-Militärmacht verknüpft. Meine letzte Reise vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie führte mich zu den US Marines nach San Diego.
Bei meinem ersten Arbeitstermin im Pentagon trug ich übrigens Jeans, ein Fauxpas, wie sich herausstellte, den mir mein damaliger Chef nie verzieh. Da halfen auch keine Schwarzenegger-Witze. Alle meine Chefs in den letzten zwölf Jahren waren amerikanische Offiziere, amerikanische Botschafter oder ehemalige hohe Beamte im Pentagon. Viele davon waren der Republikanischen Partei zugetan. Für mich ist das stets ein interessanter Kontrast zu meinem privaten Umfeld im ultraliberalen Brooklyn gewesen. Ich bin mir aber zugleich bewusst, dass ich dadurch nur ein sehr einseitiges Bild der amerikanischen Gesellschaft habe.
Mit dem Begriff Heimat sind immer Gefühle verbunden. Was empfinde ich, wenn ich meinen Gefühlen zu Amerika freien Lauf lasse? Die Antwort fällt klischeehaft aus: Es ist eine Mischung aus Liebe und Leid.
In den USA, genauer gesagt in New York, habe ich mich zum ersten Mal verliebt. Ich erinnere mich, wie glücklich ich damals mit meiner Freundin eng umschlungen auf einer Bank im Madison Square Park saß, bis uns Polizisten um ein Uhr früh aufforderten, nach Hause zu gehen. Parks schließen in der Nacht in New York. Und noch viel wichtiger: In New York habe ich auch die große Liebe meines Lebens, Isabella, geheiratet. Oft denke ich zurück an die Fahrt in der Subway zum Standesamt nach Manhattan und die vielen Gratulationen von völlig Fremden auf dem Weg dorthin. Im Hudson Valley habe ich erfahren, dass ich Vater werde, in Brooklyn, dass ich Onkel bin.
Auch Trauriges holte mich hier immer wieder ein. In Tribeca sprach ich zum letzten Mal mit meinem Vater, der kurze Zeit darauf verstarb; in Midtown hatte ich das letzte Gespräch mit meiner Schwester. Auf der Lafayette Avenue habe ich dann erfahren, dass sie einen Herzstillstand hatte, als ich im Auto über die Rip-Van-Winkle-Brücke in Catskill fuhr, sagte man mir, dass sie wohl nicht mehr aus dem Koma erwachen würde. Ich erinnere mich auch an Afghanistan und die Gesichter der jungen Amerikaner, die an einem furchtbaren Tag bei einem Raketenangriff der Taliban ums Leben kamen. Manchmal kommen sie mich mit den anderen Toten in der Nacht in meiner Wohnung in Brooklyn besuchen.
Was bedeutet mir also Amerika? Ist es für mich wirklich Heimat geworden? Ja, das ist es! Mein Amerika ist aber nicht das Amerika Joe Bidens und schon gar nicht das Amerika von Donald Trump. Mein Amerika, das ist New York, das ist Washington DC, das ist das Hudson Valley, das sind die Catskills-Berge und Maine. Mein Amerika, das sind Martini-Cocktails, Buchgeschäfte, Diners, Backsteinhäuser und Bill Maher am Samstagvormittag. Vor allem aber ist es eine kleine 40-Quadratmeter- Wohnung in Brooklyn mit einer abgesessenen Couch und Isabella, die dort auf mich wartet.
Zu meinem Amerika gehört aber auch die Steiermark. Der einzige Grund, warum ich überhaupt von einer zweiten Heimat in den USA sprechen kann, ist meine enge Verbundenheit mit dem Ort, von dem ich komme. Ohne diese Wurzeln hätte es die Flügel, die mich 1999 über den Atlantik trugen, wohl nie gegeben. Ohne die Steiermark würde mein Amerika nicht existieren. Und mein Amerika, das liebe ich.
Franz-Stefan Gady aus New York