"Sagen sie einfach, dass sie verrückt und nicht wahr ist!“, forderte die Journalistin Savannah Guthrie vom Sender NBC den amerikanischen Präsidenten während eines Fernsehauftritts im Oktober auf. Mit „sie“ ist die Verschwörungstheorie QAnon gemeint, die seit 2017 im Internet zirkuliert und sich seither wie Lauffeuer unter Trump-Unterstützern und republikanischen Wählern verbreitet hat.
Ihre Anhänger glauben, dass ein von satanischen Menschenhändlern geführter Staat im Staate, der sogenannte „Deep State“ Kinder entführe, foltere und ermorde, um aus deren Blut eine Verjüngungsdroge herzustellen. Donald Trump, so die Theorie, sei der Einzige, der es wage, dieser globalen geheimen Elite die Stirn zu bieten.
Und so ließ sich der Präsident während seines Fernsehauftritts Mitte Oktober denn auch nicht festnageln. „Was ich über sie weiß, ist, dass sie vehement gegen Pädophilie sind, und damit stimme ich überein“, meinte Trump ausweichend über die QAnon-Anhänger. Davor hatte er sich schon öfters geweigert, die Verschwörungstheorie zu verurteilen. Auch behauptete er immer wieder, QAnon und seine Anhänger gar nicht zu kennen. Er wisse nur, dass, „sie mich sehr mögen“ und „Amerika lieben“, sagte er im August. Auf Twitter teilte der Präsident einer Studie zufolge seit 2017 jedoch über 250 Nachrichten von QAnon-affinen Profilen.
Die Verschwörungstheorie findet immer mehr Unterstützung in der Republikanischen Partei. Eine Reihe von Kongress-Kandidaten in diesem Wahljahr gaben sich offen als Anhänger zu erkennen. Und das, obwohl die Bundespolizei, das FBI, QAnon im August als gefährliche Verschwörungstheorie einstufte, die Extremisten anstiften könnte, „Verbrechen und andere gewalttätige Aktivitäten zu begehen“. Für QAnon-Unterstützer ist das freilich kein überraschendes Urteil. Sie halten das FBI und alle anderen Regierungsinstitutionen in Washington DC für Teile des teuflischen „Deep State“, die alle nur ein Ziel verfolgen: Trump zu stürzen und QAnon zu diskreditieren.
"Unamerikanisches" Washington
Trumps genaue Beweggründe, sich hinter die Bewegung zu stellen, sind unklar. Warum diese jedoch gerade unter republikanischen Wählern auf fruchtbaren Boden fällt, erklärt sich einfacher: Die Verschwörungstheorie spricht gezielt lang existierende, regierungskritische und antistaatliche Tendenzen in der Partei an. In der Republikanischen Partei gibt es nämlich eine lange Tradition, Regierungsinstitutionen, die Washingtoner Bürokratie und staatliche Interventionen jeglicher Art, sei es in der Wirtschaft oder der Gesundheitspflege, mit Ausnahme der Streitkräfte, als „unamerikanisch“ anzusehen, da sie die individuelle Freiheit einschränkten und eine Vorstufe zum autoritären und kollektiven Sozialismus seien. Der von QAnon imaginierte „Deep State“ mag also nichts mit den eigentlichen bürokratischen Institutionen DCs zu tun haben, was beide aber in den Augen von QAnon-nahen republikanischen Wähler eint, ist ihre unamerikanische Natur.
Die moderne regierungsfeindliche Haltung der Republikanischen Partei war im 20. Jahrhundert vor allem eine Antwort auf die „New Deal“-Politik von Präsident Franklin D. Roosevelt, der von 1933 bis 1945 regierte und als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise mit einer Reihe von Wirtschafts- und Sozialreformen die Grundpfeiler eines amerikanischen Sozialstaates einschlug. So wurden unter Roosevelt zum ersten Mal staatliche Sozialversicherungen in den USA eingeführt.
Diese Interventionspolitik wurde von den Republikanern vehement abgelehnt. Die wichtigste Antwort der Republikaner darauf erfolgte in den 1980ern unter Präsident Ronald Reagan, der den Einfluss des Staates in der amerikanischen Gesellschaft massiv zurückdrängen wollte. So meinte Reagan 1986: Die neun gefürchtetsten Wörter in der englischen Sprache seien: „I’m from the government, and I’m here to help“ („Ich komme von der Regierung und bin hier, um zu helfen“). Berühmtheit erlangte auch das Zitat aus seiner Antrittsrede 1980: „Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems. Sie ist das Problem.“
Reagans Antwort auf Roosevelt
Reagan plante eine fundamentale Neuordnung des Verhältnisses zwischen dem Bürger und dem Staat. Zusammengefasst: je niedriger die Steuern, je weniger staatliche Intervention im freien Markt und Bürokratie, desto besser für den Einzelnen. Reagan knüpfte damit direkt an die Grundzüge der Amerikanischen Revolution an, deren Ausbruch zum Teil auf die interventionistische britische Steuerpolitik und die als zu stark angesehene Rolle der britischen Kolonialmacht zurückzuführen ist. Reagan wollte aber auch einen Kontrapunkt zur Sowjetunion und dem Kollektivismus der Kommunisten ziehen, die er als zutiefst unamerikanisch verurteilte.
Ein weiteres Erbe seiner Politik war übrigens das Ende der Fairness-Doktrin, einer Vorschrift der US-Regulierungs- und Zulassungsbehörde für Rundfunk und Kommunikation (FCC). Diese besagte, dass der Rundfunk über Themen von öffentlichem Interesse in einer „ehrlichen sowie gleichberechtigten und ausgewogenen Weise“ zu berichten habe.
Die Polarisierung der US-Gesellschaft
Das Aussetzen der Doktrin im Jahr 1987 trug erheblich zur Zersplitterung des Medienmarktes in den Vereinigten Staaten bei und förderte den Aufstieg von Meinungsjournalismus. Die politische Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft wurde dadurch gefördert, was wiederum zusätzlich den Boden für das Ausbreiten von Verschwörungstheorien, etwa im konservativen „Talk Radio“ bereitete. Eine direkte Konsequenz von Reagans antistaatlicher Rhetorik war, dass sie langfristig unter vielen republikanischen Wählern die Skepsis gegenüber den gesamtstaatlichen Institutionen mit Ausnahme der amerikanischen Streitkräfte stärkte.
Diese tief sitzende Abneigung gegen bundesstaatliche Institutionen spürten über die Jahrzehnte hinweg vor allem demokratische Präsidenten, die sich in der Nachfolge Roosevelts den Grundprämissen des „New Deal“, wie etwa einer arbeitnehmerfreundlichen Beschäftigungspolitik und einer staatlich geförderten Gesundheitsversorgung, verpflichtet fühlten. So hatte Bill Clinton in den 1990er-Jahren von Anfang an gegen eine starke legislative Opposition im Kongress unter dem Republikaner Newt Gingrich zu kämpfen, der gegen staatliche Interventionspolitik wetterte und um den Jahreswechsel 1995/96 einen bundesstaatlichen Shutdown anzettelte.
In den 1990ern begann auch in Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit die regierungskritische Skepsis mit diversen Verschwörungstheorien zu verschmelzen. Unmittelbarer Auslöser waren eine Reihe von exzessiven und blutigen Einsätzen von US-Regierungsbehörden. Ein Schlüsselmoment war die Belagerung einer Berghütte im Bundesstaat Idaho, genannt Ruby Ridge, 1992, bei der Beamte in einer Schießerei den Sohn und die Frau eines dort ansässigen, regierungskritischen Bauern töteten. Verschiedenen Verschwörungstheorien zufolge sei der Einsatz Teil eines tyrannischen Komplotts der Clinton-Administration gewesen, um die amerikanischen Staatsbürger ihrer Grundrechte, unter anderem des Rechts, Waffen zu tragen, zu berauben und einen totalitären Staat zu errichten.
Ruby Ridge war die Geburtsstunde der Milizbewegung in den USA, einem Sammelbecken paramilitärischer Organisationen mit Hang zu Verschwörungstheorien. Viele dieser Gruppen, die allesamt dem konservativen politischen Spektrum zuzuordnen sind, glauben an eine Geheimallianz der UNO mit der Regierung in Washington mit dem Ziel, eine supranationale Weltregierung zu errichten. Dieser Verschwörungstheorie hängen auch die QAnon-Leute an.
Bestärkt wurden die konservativen Regierungsskeptiker durch die Ereignisse 1993 in Waco, Texas, als durch einen verpfuschten Einsatz der Bundesbehörden 78 Menschen einer religiösen Sekte starben. Das Blutbad motivierte Timothy McVeigh, einen Ex-Soldaten, zu seinem Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building, eine bundesstaatliche Institution in Oklahoma City, bei dem am 19. April 1995 168 Menschen ums Leben kamen.
Die Republikanische Partei trägt selbstverständlich keine Schuld für diesen inländischen Terrorismus. Bis zum Amtsantritt von Donald Trump verbreitete sie auch keine Verschwörungstheorien. Wahr ist allerdings, dass die Partei mit ihrer regierungsfeindlichen Ideologie dezidiert zu einer gesteigerten Skepsis gegenüber amerikanischen Regierungsinstitutionen und staatlichen Behörden beitrug.
Es überrascht daher also nur wenig, dass Verschwörungstheorien wie QAnon, die sich in erster Linie gegen staatliche Institutionen richten, unter republikanischen Wählern beliebter sind als unter Demokraten.
Die sozialen Medien stärken heutzutage sicherlich den Glauben an das große Weltkomplott. Trotzdem greift es zu kurz, Bewegungen wie QAnon darauf und auf einen twitternden Präsidenten zu reduzieren. Antibundesstaatliche und regierungskritische Strömungen haben in der Republikanischen Partei eine lange Tradition. Das muss nicht zwangsläufig zu QAnon führen. Aber die Voraussetzung für das Entstehen von bizarren Verschwörungstheorien wird dadurch allemal begünstigt.