Brüssel im Mai 2017. Die Nato hat sich zum Gipfel in der belgischen Hauptstadt versammelt. Es ist der Moment des Gruppenbilds. 30 Staats- und Regierungschefs nehmen Aufstellung. Plötzlich Gedrängel. Donald Trump will ins Rampenlicht. Schroff schiebt er den verdutzten Premier von Montenegro beiseite. Der sucht den Blickkontakt zu Trump. Aber Amerikas Präsident ignoriert ihn. Mit herablassender Miene blickt Trump über die Köpfe hinweg. Dann zieht er sich sein Sakko zurecht. Trump wirkt zufrieden. Jetzt steht er wieder im Mittelpunkt. Das ist alles, was für den mächtigsten Mann der Welt an diesem Tag zu zählen scheint. Mit der Nato und speziell mit den europäischen Verbündeten kann er nur wenig anfangen.
Das kommt nicht von ungefähr. Trumps Außen- und Sicherheitspolitik hat sich ein oberstes Ziel gesetzt: „America First!” („Amerika zuerst“). Für Partner ist da wenig Platz, höchstens für Vasallen. Die Europäer seien sowieso nur Trittbrettfahrer der USA. „Jedes Land in der Nato zockt uns ab“, schimpft der Präsident. Auch in Brüssel drängt er die Alliierten, ihre Wehrbudgets zu erhöhen. Insbesondere von Deutschland fordert er massive „Nachzahlungen.“ Das Bündnis sei „veraltet“, diene nicht länger amerikanischen Sicherheitsinteressen.
Gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft hat Trump sogar öffentlich darüber nachgedacht, die Allianz aufzukündigen. Der Aufschrei war auf beiden Seiten des Atlantiks groß. Mit der Aussage schien der Präsident einen jahrzehntelangen parteiübergreifenden Konsens in Washington zerstören zu wollen. Die Nato galt stets als unantastbar. Egal welche Zerwürfnisse es zwischen Europäern und Amerikanern gab, das 1949 gegründete Bündnis war Garant für Friede und Sicherheit in der gesamten „Freien Welt“, wie der Westen im Kalten Krieg genannt wurde. Doch jetzt droht der Atlantische Pakt zu zerbrechen.
Trump belebt lediglich Amerikas alte Zweifel neu
Trump ist freilich nicht der Ursprung der Zweifel an Bündnissystemen in den USA. Er belebt diese nur neu. Die Skepsis hat in der amerikanischen Politik, vor allem in der republikanischen Partei eine weit zurückreichende Tradition. Schon George Washington, der erste Präsident der USA, warnte am Ende seiner Amtszeit 1796 vor Allianzen mit europäischen Mächten. John Quincy Adams, der sechste Präsident, unterstrich diese Abneigung 1821 mit der Aussage, dass die USA „nicht ins Ausland gingen, um dort Monster zu suchen, die sie zerstören können“. Amerika hatte also kein Interesse, anderen Ländern im Kriegsfall beizustehen. Zwei Jahre später wurde die Monroe-Doktrin, benannt nach dem 5. Präsidenten der USA, James Monroe, deklariert.
Die neue offizielle außenpolitische Leitlinie betonte Amerikas Nichteinmischung („non-intervention“) in europäische Konflikte, woraus sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Primat des Isolationismus entwickelte: Amerika mischt sich demnach weder in die Angelegenheiten anderer Staaten ein, noch duldet es die Einmischung anderer Mächte in seine internen Angelegenheiten.
Leben und leben lassen. Aus dieser Maxime folgte allerdings nicht, dass die USA militärisch aufrüsteten. Im Gegenteil, die angehende Großmacht unterhielt ein relativ kleines Heer. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte die U.S. Army etwa die Mannstärke des heutigen österreichischen Bundesheeres. 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, war das aktive Heer Österreich-Ungarns gut sechsmal, nach der Mobilisierung im August desselben Jahres fast 30 Mal so groß wie das der USA. Auch die U.S. Navy wurde erst im frühen 20. Jahrhundert langsam zur Streitkraft aufgebaut, die sich mit den europäischen Kriegsmarinen messen konnte.
Einer der Hauptgründe dafür war, dass bis ins 20. Jahrhundert hinein viele US-Politiker stehende Streitkräfte als inkompatibel mit einem demokratischen Staatswesen ansahen. Diese Skepsis war auch eine der Ursachen, warum die USA nach dem Ersten Weltkrieg ihre Militärausgaben massiv reduzierten. In den 1930er-Jahren, als die Welt erneut vor einem Krieg stand, entwickelte sich vor allem unter Republikanern eine regelrechte politische Bewegung, die mit aller Macht den Eintritt der USA in einen neuen Weltkrieg verhindern wollte. 1940 wurde von den Isolationisten das „America First Committee“ (AFC) gegründet, dessen Namen Trump viele Jahre später für seine Außenpolitik-Doktrin 2016 adaptieren sollte. Das AFC war für strikte Neutralität und kanzelte den amtierenden Präsidenten Franklin D. Roosevelt als Kriegstreiber ab. Die Mehrheit der amerikanischen Öffentlichkeit wollte nicht in den Krieg ziehen.
Die große Wende kam für die amerikanische Außenpolitik im 20. Jahrhundert mit dem japanischen Luftangriff auf die U.S. Navy in Pearl Harbor, Hawaii, am 7. Dezember 1941. Über 2400 Menschen fanden dabei den Tod. Ein Großteil der amerikanischen Pazifikflotte wurde zerstört. Die Attacke erfolgte ohne Kriegserklärung. Die Empörung über die Heimtücke des Überraschungsangriffs fegte sämtliche isolationistische Bedenken in der Öffentlichkeit im Nu vom Tisch. Millionen meldeten sich für die Streitkräfte.
Der rapide Umschwung der öffentlichen Meinung in den USA nährt bis heute diverse Verschwörungstheorien. Vor allem Präsident Franklin D. Roosevelt wurde verdächtigt, den Angriff angezettelt zu haben, oder vorab informiert gewesen zu sein. Jede seriöse Studie der historischen Sachverhalte entkräftet das aber. Fest steht: Roosevelt wusste, wie stark der Neutralitätsgedanke in der Öffentlichkeit verankert war, und entschloss sich zu einer passiven Haltung gegenüber dem immer aggressiver auftretenden Japan vor dem 7. Dezember 1941.
Der Zweite Weltkrieg leitete das amerikanische Zeitalter ein. Von 1941 bis 1945, in knapp vier Jahren, stiegen die USA zur unangefochtenen Weltmacht auf. Keine andere Nation der Erde konnte sich wirtschaftlich oder militärisch mit ihnen messen. Die Dominanz hält bis heute an.
Zwischen Einmischung und Nichteinmischung
Was aber viele vergessen: Die USA wollten sich nach Kriegsende wieder von der Weltbühne zurückziehen. Zu stark war die Skepsis vor permanenten Bündnissen und expandierenden Streitkräften. Gleichzeitig etablierte sich in den 1940er-Jahren eine neue sicherheitspolitische Leitlinie: der sogenannte Interventionismus, der im Spannungsverhältnis zum Isolationismus steht. Mit ihm verbindet man in den USA bis in die Gegenwart ein einziges Wort: München. Grundprämisse der Interventionspolitik war, dass Adolf Hitler bereits 1938 bei der Münchner Konferenz hätte gestoppt werden sollen, als Nazi-Deutschland militärisch noch schwach war. Um einen neuen Weltkrieg zu verhindern, müssen die USA schnell und aktiv gegen potenzielle Aggressoren vorgehen. Diese Idee lag auch den Kriegen Amerikas in Vietnam in den 1950er- bis 70er-Jahren und dem im Irak 2003 zugrunde.
In der republikanischen Präsidentschaftsvorwahl 1952 gab es den letzten Schlagabtausch zwischen zwei Kandidaten, die je eine der zwei Leitlinien, Isolationismus und Interventionismus, vertraten. Senator Robert Taft wollte die USA aus der Nato führen, dem ersten permanenten Bündnis, dem das Land beitrat, oder die Rolle des Landes in der Allianz zumindest reduzieren. Dwight D. Eisenhower dagegen warb für ein stärkeres amerikanische Engagement innerhalb des westlichen Bündnisses. Er gewann die Vorwahl und setzte sich auch gegen seinen demokratischen Gegenkandidaten durch.
Einmal im Weißen Haus, zementierte er die internationale Rolle der USA und band das Land an neue internationale Institutionen wie die UNO, um ein Abdriften der Vereinigten Staaten in die Isolation zu verhindern. Die Nato wurde dank Eisenhower zum unverzichtbaren Baustein der amerikanischen Strategie im Kalten Krieg und im Wettbewerb der Systeme gegen die Sowjetunion.
Paradoxerweise warnte aber auch Eisenhower in seiner Abschiedsrede 1960 vor einem wachsenden „militärisch-industriellen Komplex“, der Gefahr von stehenden Streitkräften für Amerikas Demokratie und knüpfte wieder an die Tradition des Isolationismus an. Unter seiner Präsidentschaft 1953 bis 1961 kamen auch die ersten amerikanischen Beschwerden auf, dass die Europäer mehr für ihre eigene Verteidigung tun sollten.
Jeder amerikanische Präsident wiederholt seither mantrahaft diese Forderung und stößt meist auf taube Ohren. Donald Trumps Verhalten am Gipfel in Brüssel schließt also an eine lange amerikanische außenpolitische Tradition an. Das gilt auch für seine Ankündigungen, Truppen aus Afghanistan und Deutschland abzuziehen, sowie Trumps deklariertes Ziel, den militärischen Fußabdruck der USA weltweit zu reduzieren. Die „endlosen Kriege („Forever Wars“) müssen enden“, glaubt der Präsident. Im Gegensatz zu den alten Isolationisten sieht die neue Garde um Trump starke Streitkräfte jedoch als ein Plus für die USA und keine Gefahr für die Demokratie.
Anzeichen dafür, dass Trump Amerikas Sicherheitspolitik komplett neu ausrichten will, gibt es trotzdem nur wenige. Bisher bleibt es bei Rhetorik. Ob die USA die Rolle des globalen Weltpolizisten in den nächsten Jahrzehnten wirklich abgeben werden, ist fraglich. Vor allem, wenn Joe Biden ab Jänner 2020 im Weißen Haus sitzen sollte.