SPÖ-Fraktionschef Kai Jan Krainer warf in seinem Eröffnungsstatement zu Beginn der von ihm beantragten Sondersitzung der ÖVP und dem Kanzler "einen schlampigen Umgang mit der Wahrheit" vor. So habe es sich in der Zwischenzeit als falsch erwiesen, dass im Zuge der Schredderaffäre nur Druckerfestplatten vernichtet worden seien. Heute wisse man, dass zumindest zwei Festplatten von Laptops stammen.
In der Causa Kurz dürfe die ÖVP nicht den Konsens der zweiten Republik aufkündigen, wonach jeder angeklagte Spitzenpolitiker den Rücktritt einreichen müsse. „Die rote Linie darf nicht nur für SPÖ-Bundeskanzler, sondern auch für alle Kanzler, Regierungsmitglieder oder Landeshauptleute gelten", sagt Krainer.
„Es gibt von Ihnen zwei Gesichter. Wenn die Kameras eingeschalten sind, sind Sie höflich und respektvoll. Wenn die Kameras ausgeschaltet sind, sind Sie ohne Anstand, ohne Respekt, ohne Moral. Sie erinnern mich an die Beteuerungen von Karl-Heinz Grasser.“
Kurz: "Es geht nicht um die Wahrheitsfindung"
Kanzler Sebastian Kurz fuhr in seiner Wortmeldung gegen die Opposition schwere Geschütze auf. „Es geht nicht mehr um einen Wettbewerb der besten Ideen, es geht nur noch darum, andere zu diffamieren und zu vernichten.“ Auch im U-Ausschuss gehe es „nicht um Wahrheitsfindung, sondern um die Diffamierung des politischen Gegners“. Kurz wiederholte einmal mehr, dass er bereits zweimal von der Bevölkerung mit großer Mehrheit gewählt wurde. Und an die SP gerichtet: „Die Macht in Österreich liegt bei den Wählern.“
Rendi-Wagner: "Die Justiz entscheidet, nicht das Volk"
SPÖ-Chef Pamela Rendi-Wagner ging auf die Details nicht ein, meinte nur: „Ob Sie angeklagt werden, entscheidet nicht dieses Haus, nicht die Opposition, nicht der Bundespräsident, die Bevölkerung, sondern die unabhängige Justiz.“
Kickl: "Sie wandeln auf den Spuren des HC Strache"
FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl erinnerte am zweiten Jahrestag des Ibiza-Videos an die damaligen Aussagen des Kanzlers, dass er nicht mit einem Regierungsmitglied zusammenarbeiten könne, wenn gegen dieses ermittelt werde. „Schämen Sie sich nicht angesichts der Wendehalsigkeit!“ Niemand habe der ÖVP eine Falle gestellt, es gab keinen Lockvogel, zum Verhängnis sei der ÖVP das Handy von ÖBAG-Chef Thomas Schmid geworden. „Sie haben beim Schreddern der Festplatten auf das Handy des Herrn Schmid vergessen.“ Der Kanzler wandle in Sachen Selbstmitleid „auf den Spuren des HC Straches.“
Maurer: "Hochnotpeinliches" Manöver
Die grüne Klubchefin Sigi Maurer klagte darüber, dass der Verfassungsgerichtshof an der Nase herumgeführt worden sei. Es sei hochnotpeinlich, dass der Finanzminister eine Aufforderung des Bundespräsidenten gebraucht habe, um die Akten an den U-Ausschuss zu liefern. Es sei nicht in Ordnung, das Parlament mit der Klassifizierung der Unterlagen zu "papierln". Maurer berichtet auch, dass die Dokumente nun auch auf digitalem Wege ans Parlament geliefert werden sollen.
Keine Mehrheiten
Für die Opposition brachte der Freiheitliche Christian Hafenecker einen Misstrauensantrag gegen Blümel ein, der am Ende der Sitzung mit Koalitionsmehrheit abgeschmettert wurde. Der Misstrauensantrag der FPÖ gegen Kanzler Kurz fand außerhalb der eigenen Reihen keine Unterstützung.
Ausgangslage für die Sondersitzung
Eigentlicher Anlass für die außertourliche Zusammenkunft am Montag war, dass Finanzminister Gernot Blümel Unterlagen erst an den U-Ausschuss geliefert hatte, nachdem der VfGH Bundespräsident Alexander Van der Bellen zur Exekution aufgefordert hatte. Die Opposition will hier eine Ministeranklage gegen Blümel einbringen, die aber wie in solchen Fällen üblich so gut wie keine Erfolgsaussichten hat. Inzwischen ist noch die möglicherweise bevorstehende Anklage gegen Kurz wegen angeblich falscher Zeugenaussage vor dem U-Ausschuss hinzugekommen. Zumindest die FPÖ erwägt einen Misstrauensantrag gegen den Kanzler, den ein ähnliches Schicksal wie jenen zur Ministeranklage ereilen dürfte.
Wann sind Konsequenzen angebracht?
Diskutiert wird derzeit vor allem, wann Konsequenzen angebracht wären. Kurz bekräftigte, dass er auch im Fall der Anklage nicht an Rücktritt denkt.
- Sebastian Kurz selbst geht von einer Anklage aus, rechnet aber mit einem Freispruch. Einen Rücktritt schon bei Anklage schließe er "definitiv aus".
- ÖVP-Ministerin Elisabeth Köstinger hält einen Rücktritt auch im Falle einer Verurteilung nicht für nötig.
- Die Grünen vermieden bisher eine Festlegung: "Jetzt sollen einmal die unabhängigen Staatsanwälte arbeiten", so Vizekanzler Werner Kogler.
- Auch Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein wich dem in der ORF-Reihe "Im Journal zu Gast" aus: Jetzt sei "nicht Zeit über irgendwas zu spekulieren", jetzt müsse die Justiz prüfen und die Grüne Justizministerin Alma Zadic sei "Garant, dass nix daschlogn wird".
- Eine "rote Linie" wäre ein Strafantrag für die SPÖ: "Eine Anklage wäre mit der Amtsfähigkeit nicht vereinbar", sagt SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Dies sei unabhängig von Partei oder Amt, und gelte daher auch für ihren Parteifreund, Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, gegen den wegen des Verdachts der Falschaussage im Commerzialbank-U-Ausschuss ermittelt wird. „Und es würde auch für mich selber gelten.“
- Der SPÖ-Fraktionsführer im Ibiza-U-Ausschuss, Jan Krainer, formuliert: „Ein Kanzler kann nicht gleichzeitig auf der Regierungs- und auf der Anklagebank sitzen.“
- Wiens Bürgermeister Michael Ludwig hielt sich bei der Rücktrittsfrage auffällig zurück. Eine Anklage gegen einen Kanzler wegen vermeintlicher Falschaussage im U-Ausschuss wäre "das erste Mal in der Zweiten Republik. Von daher wäre das eine sehr ernste Situation", sagte er nur - und schloss für den Fall einer Neuwahl eine Koalition mit der ÖVP nicht aus.
- Er könne sich "beim besten Willen nicht vorstellen, dass Kurz bewusst die Unwahrheit gesagt hat im U-Ausschuss", sagt der von der ÖVP in die Regierung geholte unabhängige Arbeitsminister Martin Kocher. Für Spekulationen über Konsequenzen sei es "viel zu früh".
- Aus Sicht der FPÖ kann der Kanzler "im Falle einer Anklage mit seinem Team nicht länger im Amt bleiben", betonte Generalsekretär Michael Schnedlitz.
Entlastungsgutachten: Anklage unwahrscheinlich?
Das Kanzleramt selbst unternahm gestern eine Entlastungsoffensive: Ein Gutachten des Strafrechtsexperten Hubert Hinterhofer kommt zum Schluss, dass eine Anklage unwahrscheinlich sei, weil sich den bisherigen Mitteilungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) kein dringender Tatverdacht entnehmen ließe, wonach der Kanzler im U-Ausschuss absichtlich und aktiv die Unwahrheit gesagt habe. Der Tatverdacht wäre aber Voraussetzung dafür, dass eine gewisse Verurteilungswahrscheinlichkeit – und damit die Basis für eine Anklage – gegeben sei. Die WKStA-Ausführungen seien „spekulativ und unterstellend“.
Das Gutachten zitiert Passagen wie "mit 'er' dürfte aus dem Gesamtkontext offenbar Sebastian KURZ gemeint sein", "lässt darauf schließen, dass auch Sebastian KURZ dieses Dokument bekannt sein musste" oder "mit dem "sideletter" ist offenbar die Einigung zwischen Mag. SCHIEFER und MMag. SCHMID gemeint", die auf "spekulative Schlussfolgerungen" der WKStA schließen ließen. Eine Verurteilungswahrscheinlichkeit in Bezug auf eine falsche Beweisaussage sei bei jenen Passagen in der Mitteilung der WKStA, in denen sie Spekulationen darüber anstelle, wie die wahre Sachlage gewesen sein könnte, von vornherein zu verneinen.
Es seien auch Zweifel daran angebracht, dass der Kanzler vorsätzlich falsch ausgesagt habe, da „ihm klar sein musste“, dass dies „unweigerlich eine Strafanzeige nach sich gezogen hätte“, was auch laufend angekündigt worden sei. Wenn aber seine Aussagen vor dem Untersuchungsausschuss seiner subjektiven
Wahrnehmung nach tatsächlich die Geschehnisse rund um die Bestellung des Vorstandes und der Aufsichtsräte der Beteiligungsgesellschaft korrekt wiedergegeben haben, so hätte er ohne Vorsatz gehandelt.
Experte in ZiB2: Auch Diversion unwahrscheinlich
Etwas anders sieht das der Vorstand des Instituts für Wirtschaftsstrafrecht an der WU Wien, Robert Kert. Im Interview mit der Zeit im Bild 2 sagt er, er könne sich vorstellen, dass die WKStA einen Strafantrag stelle, weil sie der Meinung sei, dass die Causa gerichtlich geklärt werden müsse. Ob es auch zu einer Verurteilung kommen könnte, könne man zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht sagen, so Kert. Die Staatsanwaltschaft müsse noch den Beschuldigten und weitere Zeugen befragen, dass könne noch mehrere Monate dauern. Eine Diversion hält Kert derzeit nicht für wahrscheinlich, einerseits weil der Sachverhalt noch nicht geklärt ist, andererseits wegen der generalpräventiven Wirkung.
Ausgangspunkt Ibiza-Ausschuss
Ausgangspunkt für die aktuellen Entwicklungen ist die Arbeit im Ibiza-Untersuchungsausschuss. Unterschiedlicher in Bezug auf deren Bewertung könnten die Auffassungen nicht sein: Für Jan Krainer, SPÖ-Fraktionsführer im Ibiza-Untersuchungsausschuss, hat der Ausschuss "viel Überraschendes" zu Tage gefördert. Es sei sein sechster U-Ausschuss, und einer der erfolgreichsten U-Ausschüsse überhaupt.
"Man ist am Schluss viel klüger als zu Beginn", erklärte Jan Krainer in der Sendung "Hohes Haus". Begonnen habe es mit dubiosen Verbindungen der Novomatic zu FPÖ-Funktionären.
"Wie Weihnachten und Ostern zugleich"
Heute wisse man, dass die Verbindungen von ÖVP-Leuten zur Novomatic viel dichter gewesen seien, dass diese unter der Ägide des Finanzministeriums mit Hartwig Löger "hinter dem Rücken der FPÖ" ein Gesetz vorbereitet hätten, das für die Novomatic "wie Ostern und Weihnachten zugleich" gewesen wäre. "Zum Tanzen gehören eben immer zwei", so Krainer, "zum Tango corrupti auch".
ÖVP-Mandatar Klaus Fürlinger, seines Zeichens auch Anwalt, sieht die Lage naturgemäß weniger dramatisch. Für ihn "hat der Ausschuss nichts hervorgebracht, was wesentlich ist", es habe daher keinen Sinn, ihn über Mitte Juli hinaus zu verlängern. Krainer ist selbstredend für eine Verlängerung "auf jeden Fall".
Grüne warten ab
Entscheidend für eine Mehrheit werden die Grünen sein, und Vizekanzler Werner Kogler ließ bereits erkennen, woher der Wind weht: Man werde nicht unbedingt einer Verlängerung zustimmen, "weil wir können ja eh jederzeit einen neuen Ausschuss einsetzen". Spricht: Mann will es sich mit der ÖVP nicht verderben, hält sich aber offen für eine Mehrheitsbildung mit der Opposition, wenn damit grundsätzlich der Aufklärung gedient ist.