Das wegen der Corona-Krise beschlossene Notstandsgesetz in Ungarn stößt in Europa auf massive Kritik. Es ermöglicht dem rechtsnationalen Premier Viktor Orban das Regieren per Dekret für unbestimmte Zeit. "Alle Notmaßnahmen müssen auf das Notwendige begrenzt und strikt verhältnismäßig sein. Sie dürfen nicht unbegrenzt andauern", forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch.
Ein Sprecher der Brüsseler Behörde sagte am Dienstag, die Kommission werde das endgültig verabschiedete Gesetz analysieren und die Anwendung weiter beobachten. Dies umfasse auch Teile des Gesetzes, die auf die Bekämpfung von "Fake News" abzielten. Durch den Notstand sollen in Ungarn mehrjährige Gefängnisstrafen für die Verbreitung von "Falschnachrichten" ermöglicht werden.
Achtung von Meinungsfreiheit
Es sei von "äußerster Wichtigkeit, dass die Notfallmaßnahmen nicht auf Kosten unserer Grundprinzipien und im (EU-)Vertrag verankerten Werte geht", betonte von der Leyen. "Demokratie kann nicht ohne freie und unabhängige Medien funktionieren." Die Achtung von Meinungsfreiheit und Rechtssicherheit sei in diesen unsicheren Zeiten essenziell. "Jetzt ist es wichtiger denn je, dass Journalisten ihren Job frei und präzise ausüben können, um Desinformation zu begegnen und sicherzustellen, dass Bürger Zugang zu wichtigen Informationen haben."
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kommentierte die international viel kritisierten Maßnahmen zunächst nicht. Aus dem Bundeskanzleramt hieß es gegenüber der APA, derzeit sei man voll gefordert durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Kurz habe Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) aber gebeten, die Entwicklungen in Ungarn genau zu verfolgen.
Unterlagen geprüft
Edtstadler teilte der APA mit, sie werde sich noch am heutigen Dienstag diesbezüglich mit der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Vera Jourova abstimmen. Auch mit ihrer ungarischen Amtskollegin Judit Varga sei Edtstadler "laufend" in Kontakt. Die ungarische Europa- und Justizministerin habe sich am heutigen Dienstag bereits "proaktiv" bei Edtstadler gemeldet. "Bei diesem Gespräch hat sie die Übermittlung von Unterlagen zugesagt, die die neuen Regelungen erläutern. Eine Beurteilung wird nach Prüfung der Unterlagen umgehend erfolgen", hieß es aus dem Büro Edtstadlers. "Klar ist, dass die Grundrechte auch in Krisenzeiten gewahrt werden müssen."
Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) erwartet unterdessen ein Vorgehen der EU gegen Ungarn nach der faktischen Selbstausschaltung des Parlaments in der Coronkakrise. "Wir können das nur schärfstens kritisieren", sagte er im Ö1-Morgenjournal. Einen Dissens zu Bundeskanzler Kurz sieht Kogler nicht. "Wir stimmen überein, dass wir in Österreich einen völlig anderen Weg gehen. Man braucht das Parlament nicht ausschalten", sagte der Grünen-Chef.
SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner übte scharfe Kritik am ungarischen Beschluss. "Orban verordnet der ungarischen Demokratie auf unbestimmte Zeit Quarantäne", schrieb die Ex-Gesundheitsministerin und außenpolitische Sprecherin der SPÖ auf Twitter. "Die Corona-Krise zu missbrauchen, um das Parlament handlungsunfähig zu machen, ist völlig inakzeptabel und darf keinem Demokraten und keiner Demokratin egal sein", betonte sie.
"Entschiedenes Einschreiten"
Nationalrats- und EU-Abgeordnete von SPÖ, Grüne und NEOS sowie der ÖVP-EU-Abgeordnete Othmar Karas verlangten in einer gemeinsamen Erklärung ein "entschiedenes Einschreiten" der EU-Kommission. Die Europäische Kommission müsse "umgehend Stellung beziehen und mit dem Europäischen Gerichtshof entschieden einschreiten", forderten sie.
Orbans Fidesz-Partei ist wie die ÖVP Teil der christdemokratischen Parteienfamilie EVP. Ihre Mitgliedschaft ist wegen des Vorwurfs der Verstöße gegen die Grundwerte der Europäischen Union seit März 2019 allerdings auf Eis gelegt. Auch in der EVP regt sich Widerstand gegen Orban. So kritisierte etwa der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe, Daniel Caspary, laut der deutschen Tagessschau das Notstandsgesetz scharf: "Das ist unerträglich, inakzeptabel und ein Beispiel dafür, wie Leute in Krisenzeiten in alte Muster zurückfallen."
"Niemand darf diese Pandemie dazu benutzen, unsere Freiheiten zu untergraben", erklärte EU-Parlamentspräsident David Sassoli am Dienstag in Brüssel. "Wir wollen mit unseren Demokratien intakt aus dieser Krise hervorgehen", fügte der Italiener hinzu. Alle EU-Staaten hätten die Pflicht, die Grundwerte der EU zu wahren und zu schützen. "Für uns müssen die Parlamente offenbleiben und die Presse muss frei bleiben", sagte Sassoli.
Ungarns Sichtweise
Die ungarische Justizministerin Judit Varga hat am Dienstagabend in der "ZIB2" das Notstandsgesetz und die De-Facto-Ausschaltung des Parlaments in Budapest verteidigt. Das ungarische Parlament habe mehr Kompetenzen als normalerweise in solchen Situationen und könne die Maßnahmen beenden, so Varga. Es sei "Mode in Europa, Ungarn zu kritisieren", sagte die ungarische Ministerin weiters. Eine Unterdrückung der Pressefreiheit in Ungarn stellte Varga in Abrede.
Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto reagierte zuvoruntergriffig auf die internationale Kritik. Die Kritiker handelten aus "Frustration und Neid", schrieb Szijjarto auf Facebook unter anderem mit Blick auf die "nie gewählten österreichischen Grünen" oder den "ewigen" Junior-Regierungspartner SPD. "Sie können von einer gesellschaftlichen Unterstützung, wie sie die ungarische Regierung mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit bei den letzten drei Wahlen genießt, nur träumen."
Auch Regierungssprecher Zoltan Kovacs wies am Dienstag auf Twitter die indirekte Kritik der EU-Kommission am ungarischen Notstandsgesetz zurück. Die angesichts der außerordentlichen Situation durch Ungarn getroffenen außerordentlichen Maßnahmen würden im Einklang stehen mit den Unionsverträgen und der ungarischen Verfassung.