In Südosteuropa bahnt sich eine neue Flüchtlingskrise an. Tausende Migranten aus der Türkei belagern seit dem Wochenende die Grenze zu Griechenland. Der türkische Staatschef Recep TayyipErdoğan kündigte an, bis Samstagabend würden 30.000 Menschen die Grenze überqueren. Griechenland versucht, die irregulären Einwanderer zurückzuhalten.
Nachdem die türkische Regierung am Donnerstag die Schlagbäume geöffnet hatte und Migranten ungehindert zu den Kontrollstellen auf der griechischen und bulgarischen Seite vormarschieren ließ, droht die Situation außer Kontrolle zu geraten.
Am Übergang Kastanies versuchten am Samstag etwa 3000 bis 4000 Migranten, die Grenze zu überqueren. Sie griffen die auf der griechischen Seite aufmarschierten Grenzpolizisten mit Steinwürfen an. Die Polizei setzte Tränengas und Blendgranaten ein. Bereits am Freitag hatten etwa 300 Migranten den Übergang zu stürmen versucht. Die griechische Polizei konnte sie aber zurückdrängen. Während die Belagerer die Nacht nahe der Grenze an Lagerfeuern verbrachten, trafen mit Bussen und Taxis ständig weitere Migranten aus dem Hinterland ein.
Organisierter Ansturm auf Europas Grenzen
Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis berief am Samstag eine Krisensitzung ein. Regierungssprecher Stelios Petsas kündigte an, Griechenland werde „alles tun, um seine Grenzen und damit Europa zu sichern“. Polizei und Armee hätten ihre Kontrollen an der Landgrenze verstärkt. Auch die Küstenwache fahre in der Ägäis mehr Patrouillen. Man habe dank des verstärkten Polizeieinsatzes gut 4000 illegale Übertritte verhindert. Trotzdem gelang es einigen Migranten, den Grenzfluss Evros zu überqueren und Grenzzäune zu überwinden. 66 irreguläre Migranten seien von Grenzschützern festgenommen worden, sagte der Regierungssprecher.
Erdoğan nannte ganz andere Zahlen. Nach seinen Angaben haben am Freitag bereits 18.000 Migranten die Grenzen nach Europa überquert. „Heute (Samstag) werden es 25.000 bis 30.000 sein“, sagte Erdoğan und unterstrich: „Wir werden unsere Grenztore nicht schließen.“
Für diese Zahlen gab es in Athen keine Bestätigung. Der Ansturm wirkt aber auf türkischer Seite organisiert: Von den Istanbuler Migrantenvierteln starten ständig Reisebusse zur 250 Kilometer entfernten griechischen Grenze. Mit der Öffnung der Grenzen hat die Türkei den Flüchtlingspakt mit der EU praktisch aufgekündigt. In der Vereinbarung, die im März 2016 geschlossen wurde, hatte sich Ankara verpflichtet, die „illegale Migration von der Türkei in die EU zu verhindern“.
Am Freitag unterrichtete Premier Mitsotakis die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den EU-Ratspräsidenten Charles Michel und die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen über die Entwicklung. Über Twitter teilte Mitsotakis mit: „Griechenland wird keine illegalen Einreisen tolerieren. Wir verstärken unseren Grenzschutz.“
Athen fürchtet, alleingelassen zu werden
Die größte Sorge in Athen ist, dass die EU Griechenland mit einer neuen Flüchtlingswelle alleinlässt. Niemand weiß, wie stark der Migrationsdruck aus der Türkei noch wird. Beobachter schätzen, dass sich in den nächsten Tagen etwa 120.000 Migranten in der Westtürkei auf den Weg machen könnten. Auch in der Ägäis droht eine neue Migrationswelle. Dort sind die Griechen nahezu machtlos: Ihre Küstenwache darf die Boote mit den irregulären Einwanderern nicht abdrängen, sondern muss sie an Land geleiten, wenn sie erst einmal griechische Hoheitsgewässer erreicht haben.
Seit Langem droht Erdoğan damit, die Grenztore zu öffnen. Jetzt macht er seine Ankündigung wahr. Die chaotischen Szenen an den Grenzübergängen, wo die Polizei die Belagerer mit Tränengas und Blendgranaten abzuwehren versucht, sind genau die Bilder, die der türkische Präsident jetzt braucht. Damit erhöht er den Druck auf Europa. Von der EU fordert Erdoğan politische Rückendeckung für seine Invasion in Syrien und weitere Milliardenhilfen für die Unterbringung der Migranten.
Unliebsame Erinnerungen an 2015
Die Türkei beherbergt rund vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Krisenländern. Da Erdoan nun die Grenztore öffnet, könnte eine Wiederholung derKrise von 2015 drohen. Damals zog binnen weniger Monate über eine Million Flüchtlinge aus der Türkei über den Balkan nach Mittel- und Nordeuropa. An manchen Tagen erreichten bis zu 10.000 Menschen die griechischen Ägäisinseln. Griechenland droht jetzt eine Entwicklung, die viel schlimmer ist als vor fünf Jahren. Während die aus der Türkei ankommenden Menschen damals nach Norden weiterzogen, sind die Grenzen auf der Balkanroute heute weitgehend dicht. Griechenland ist nicht mehr Durchgangsland, sondern Endstation.
Besonders auf den griechischen Inseln der östlichen Ägäis, die wegen ihrer Nähe zum türkischen Festland von den Schleusern bevorzugt angesteuert werden, droht bei einer neuen Migrationswelle eine Katastrophe von kaum abschätzbaren Dimensionen. Bereits jetzt sind die Auffanglager auf den Inseln überfüllt. Dort hausen rund 42.000 Menschen in Camps, die nur knapp 8000 Schlafplätze haben. In den Lagern entlädt sich die Frustration der eingepferchten Migranten immer häufiger in Gewaltausbrüchen.
Während am Samstag die griechische Polizei zusätzliche Einheiten ins Grenzgebiet verlegte, starteten in Istanbul weitere Migrantenbusse. Wie lange die griechischen Grenzschützer dem wachsenden Druck standhalten, ist ungewiss.
In Wien erklärte Kanzler Sebastian Kurz der APA: „Eine Situation wie 2015 darf sich keinesfalls wiederholen. Unser Ziel muss es sein, die EU-Außengrenzen ordentlich zu schützen, illegale Migranten dort zu stoppen und nicht weiterzuwinken.“ Sollte der Schutz der EU-Außengrenzen misslingen, so Kurz, „wird Österreich seine Grenzen schützen“.
unserem Korrespondenten Gerd Höhler aus Athen