"Ich finde, dass wir uns insgesamt auf einem ausgesprochen problematischen Weg befinden von einer liberalen Demokratie zu einer autoritären Demokratie", sagt Ex-ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner. Der Kritiker der türkis-blauen Bundesregierung unter VP-Kanzler Sebastian Kurz und FP-Vize Heinz-Christian Strache meint, es gebe "klare Merkmale, dass deren Politik 'rechtspopulistisch' ausgerichtet sei".
Als "liberale Demokratie" versteht man eine Staatsform, die die Rechte in den Mittelpunkt stellt, die den Bürgern ein freies Leben ermöglichen: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht einen Beruf oder einen Wohnort frei zu wählen, Pressefreiheit.
Zum ersten Mal wurde der Begriff vor rund einem Jahr diskutiert, als Ungarns Premier Viktor Orban erklärt hatte, "die Epoche der liberalen Demokratie ist zu Ende" und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit den Worten reagierte: Die Antwort sei "nicht die autoritäre Demokratie, sondern die Autorität der Demokratie".
Dahinter steht die Sorge darum, dass demokratische Gesellschaften sich durch die Handlungsweisen populistisch agierender Parteien und Politiker zunehmend und spürbar zum Negativen hin verändern.
Was ist eine "autoritäre Demokratie"? Und ist Österreich auf dem Weg dorthin?
Populismus und Nationalismus
Populistisch handeln heißt, so zu agieren, wie man meint, dass eine Mehrheit denkt, während Politik eigentlich den Ausgleich der Interessen im Sinne des Gemeinwohls zum Ziel haben sollte.
Nationalistisch handeln heißt, Werte und Rahmenbedingungen wie Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu gefährden, indem man eine Politik vertritt, die an einseitigen Interessen ausgerichtet ist, wie etwa in Zuwanderungsfragen und allen Themen, die damit verknüpft werden.
Was lässt Beobachter wie Mitterlehner fürchten, dass in einem Land wie Österreich, in dem demokratisch gewählte Politiker am Ruder sind, der Weg nicht mehr weit ist zu autoritären Strukturen?
Anlass zur Sorge
Es sind
- der bewusste Verzicht auf die Einbindung der Opposition bei Veränderung von relevanten Systemen wie der Sozialversicherung,
- Grenzgänge entlang der Verfassung, wie bei der Zusammenlegung der Versicherungsträger,
- Gegenpositionen zur EU, wie bei der Famillienbeihilfe,
- Halbwahrheiten an der Grenze zu "fakenews" in Zusammenhang mit armutsverschärfenden Verengungen bei der Mindestsicherung
- und Kampagnen als Ersatz für die Überzeugung der Journalisten, die via "message control" auf (Regierungs-)Linie gebracht werden sollen.
Zwei Befunde sind jedenfalls bemerkenswert:
Kriterium Pressefreiheit
"Reporter ohne Grenzen" stellte in Sachen Pressefreiheit fest, dass Österreich innerhalb eines Jahres von Platz 11 auf Platz 16 abgestürzt ist und spricht von einer "massiven Verschlechterung der Lage" der Journalisten in Österreich. Begründet wird dies mit Versuchen, Journalisten persönlich anzugreifen, Angestellten des ORF mit der Abberufung zu drohen und den Informationszugang für kritische Medien zu beschneiden. Die ersten drei Plätze in Sachen Pressefreiheit belegen Norwegen, Finnland und Schweden.
Kriterium Demokratieindex
Auf dem internationalen Demokratieindex rutschte Österreich von Platz 11 im Jahr 2011 ebenfalls auf Platz 16 ab. Der Demokratieindex wird seit dem Jahr 2006 Jahr für Jahr von der Zeitschrift "The Economist" berechnet - er misst den Grad der Demokratie in 167 Ländern der Erde. Unterschieden wird in
- "vollständige Demokratien" (zu denen auch Österreich noch gehört),
- "unvollständige Demokratien",
- Mischformen aus Autokratie und Demokratie
- und autoritäre Regimes.
Bemerkenswert: Nur noch 20 Länder wurden im Jahr 2018 als "vollständige Demokratien" bewertet.
Länder wie die USA, Portugal, Frankreich, Belgien, Italien, Tschechien, Slowenien, die baltischen Staaten, Griechenland oder die Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Polen oder Ungarn sind nur "unvollständige Demokratien".
Einige Indikatoren für die Messung:
- Sind die Wahlen frei und gerecht?
- Bestimmen frei gewählte Abgeordnete über die Politik der Regierung?
- Informieren sich die Staatsbürger über Politik in den Medien?
- Gibt es einen gesellschaftlichen Konsens für eine stabile Demokratie?
- Sind die Bürgerrechte ausreichend gewahrt?
Das demokratischste Land der Welt ist nach diesem Index übrigens Norwegen, gefolgt von Island und Schweden, das undemokratischste Nordkorea.
Es gibt also objektive Indikatoren, die Österreich schlechtere Werte als in früheren Jahren bescheinigen. Und es gibt subjektive Wahrnehmungen, wie jene der Opposition (Pamela Rendi-Wagner zuletzt beim SPÖ-Parteitag in Villach: "Sie sitzen auf ihren Bänken und betreiben Demokratieabbau") oder Mitterlehners: "Ich finde, dass wir uns insgesamt auf einem ausgesprochen problematischen Weg befinden von einer liberalen Demokratie zu einer autoritären Demokratie."
Die "Zeit" hatte Kurz schon im Oktober 2017, nach erfolgreich geschlagender Wahl, als "Populismus-Automaten" bezeichnet. Im Jänner des heurigen Jahres lief im Rahmen der Sendereihe "Die Story" auf ARD eine Geschichte über den österreichischen Kanzler unter dem Titel "Auf schmalem Grat". Subtext: Der "Welpenschutz" sei vorbei. "Er ist ein Mann, der sein Mäntelchen in den Wind hängt, den er selbst erzeugt" formulierte dort Falter-Chefredakteur Florian Klenk.
Demokratieradar
Mindestens so wichtig wie die Einschätzung von Journalisten sind die Einstellungen der Bevölkerung. Das Demokratieradar ist eine laufende Studie rund um Einstellungen der österreichischen Bevölkerung zu Fragen der Demokratie. Pro Jahr werden in zwei Wellen rund 9.000 Personen interviewt. Im Herbst 2018 ging es um das Vertrauen in die Politik und im Februar 2019 um die Europäische Union. Die Ergebnisse:
Für 87% der Menschen ist die Demokratie - auch wenn sie Probleme mit sich bringen mag - die beste Staatsform. Eine Diktatur in Form eines starken Führers, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss, lehnt die überwiegende Mehrheit ab. Sieben Prozent wünschen sich diesen Führer, 11 Prozent könnten der Idee ziemlich viel abgewinnen.
Das zweite Thema: Die Hälfte der Menschen in Österreich möchte die Unabhängigkeit der Gerichte und Medien ausbauen, 40 Prozent die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und rund ein Drittel die Rechte der Opposition. Fünf bis acht Prozent würden diese Rechte gerne einschränken.
Ein Drittel will Rechte beschränken
Interessant ist die Zusammenführung: 62 Prozent der Befragten stimmen der Demokratie als bestem Regierungssystem zu und lehnen eine Diktatur ab. Vier Prozent lehnen die Demokratie ab und sprechen sich für eine Diktatur aus. Und: Immerhin rund ein Drittel haben "autoritäre" Demokratievorstellungen, das heißt: Sie lehnen eine Diktatur ab und sehen in der Demokratie die beste Staatsform, befürworten jedoch deren Einschränkung zumindest in einem der oben genannten Bereiche. Politik-Beobachter sprechen von einem "Warnsignal".
Vertrauen in die Demokratie
Ein weiteres Thema ist das Vertrauen in die Demokratie. Finden die Österreicher, dass die Demokratie in Österreich gut funktioniert? Vertrauen sie wichtigen demokratischen Institutionen?
Erster Befund: Zwei Drittel der Befragten glauben, dass die Demokratie bei uns gut funktioniert, je ärmer sie sind, desto größer sind jedoch die Zweifel. Von denen, die über keine oder kaum finanzielle Mittel verfügen, glauben 17 Prozent, dass die Demokratie gar nicht funktioniert, 40 Prozent, dass sie "weniger gut" funktioniert.
Zweiter Befund: Das Vertrauen in Polizei und Justiz ist besonders hoch, auch jenes gegenüber dem Bundespräsidenten und der Verwaltung (rund 60 Prozent vertrauen darauf sehr oder ziemlich). Aber: Nur 48 Prozent der Befragten vertrauen dem Parlament "sehr" oder "ziemlich", nur 39 Prozent vertrauen der Europäischen Union.
Viele verlieren also das Vertrauen in das demokratische System, meinen, dass die Demokratie ihre zentralen Versprechen (Gleichheit, Beteiligung, Wohlstand) für sie nicht einhalten kann. Menschen mit weniger finanziellen Mitteln beteiligen sich auch seltener am politischen Geschehen - das stellt die politische Gleichheit in Frage.
Die Jungen ticken übrigens ganz ähnlich wie die Älteren - nur das Vertrauen in die Europäische Union ist bei den 16- bis 26-Jährigen wesentlich höher (51%) als bei den Befragten, die 27 Jahre alt oder älter sind (34%).
Regierung weist Kritik zurück
Kanzler Kurz weist die Sorge um den Stand der Demokratie in Österreich zurück. "Ich halte es für problematisch, die liberale Demokratie in Summe zu kritisieren, nur weil man mit dem Ausgang der Nationalratswahl nicht zufrieden ist", so seine Replik an Mitterlehner.
Bei FPÖ und Nicht-Wählern sind populistische Einstellungen am stärksten ausgeprägt, wie eine Nachwahlbefragung 2017 zeigte (Misstrauen gegenüber Politikern, Wunsch nach einem starken Führer, gleichzeitig Wunsch, das Volk möge entscheiden, Gefühl, nicht die Regierungen sondern Konzerne bestimmten die Politik).
Strache wird denn auch nachgesagt, dass er der eigentliche Populist dieser Regierung sei, gleichzeitig allerdings ihr Treiber. Kurz habe die zuwanderungsfeindliche Politik von ihm übernommen, nicht aber den Populismus als eigentliche Motivation, meinen Politikwissenschafter wie Laurenz Ennser-Jedenastik von der Uni Wien.
Zu den jüngsten Äußerungen Mitterlehners ist keine Ausage von Strache bekannt.
Autoritäre Wende
Politikwissenschaftler Anton Pelinka erklärte in einem Interview mit der "Zeit" im Oktober 2017: "Eine autoritäre Wende, Einschnitte in Meinungs- und Pressefreiheit und die unabhängige Justiz wird es aber in Österreich auch mit einer Regierung Kurz-Strache nicht geben."
Beim Landesparteitag der FPÖ in Oberösterreich unterstrich Strache jedenfalls seine Abgrenzung zu den rechtsextremen Identitären, und ließ dem noch ein Bekenntnis zu den Grundwerten der Demokratie folgen: Die FPÖ stehe zur Rede-, Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, zur Verfassung und Rechtsstaatlichkeit, betonte der Vizekanzler.
Gefolgt von einem Appell: Die Medienvertreter mögen dies endlich zur Kenntnis nehmen.
Claudia Gigler