War es noch die für das Staatsoberhaupt gebotene politische Neutralität? Oder hat sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit seiner sehr engagierten Rede am Dienstagabend zu sehr aus dem Fenster gelehnt? Tatsache ist, dass seine Eröffnungsansprache beim ÖGB-Bundeskongress durchaus als deutliche Stellungnahme gegen die Reformvorhaben der Bundesregierung verstanden werden kann. Denn Van der Bellen plädierte ausdrücklich für die Bewahrung der vorhandenen Systeme.
Gäbe es die Gewerkschaften nicht, dann müssten sie erfunden werden, streute der Präsident den Arbeitnehmervertretern zunächst noch sehr diplomatisch die Rosen. Dann richtete er sich direkt an die ÖGB-Spitzen: "Bleiben Sie weiter stark und selbstbewusst", sagte er und hängte dann gleich einen Katalog von Empfehlungen an: "Setzen Sie sich weiter dafür ein, dass alle vom Wohlstand profitieren und niemand auf der Strecke bleibt. Setzen Sie sich ein für die Erhaltung unseres Gesundheitssystems, Sozialsystems, Sozialversicherungssystems."
Damit ergriff das Staatsoberhaupt zwar nicht explizit Partei, ließ aber doch durchblicken, wo seine Sympathien liegen. Unumstritten, weil Teil des allgemeinen Grundkonsenses war dann freilich eine weitere Aufforderung: "Setzen Sie sich weiterhin gegen Diskriminierungen jeglicher Art ein und lassen Sie nicht zu, dass neofaschistische oder rassistische Bewegungen an Boden gewinnen."