Die Rede zum Nachsehen:
Zu seiner weiteren Zukunft deklarierte sich Karas nicht, er machte aber keinen Hehl daraus, dass er noch eine Rolle spielen wolle: „Österreich braucht einen Neustart in der Europapolitik.“ Auf Nachfrage, ob dies ein Antreten mit eigener Liste bei der Nationalratswahl oder bei der nächsten Bundespräsidentschaftswahl bedeuten könnte, gab Karas ausweichende Antworten: „Ich habe heute eine erste Entscheidung getroffen, alles Weitere wird sich weisen.“ ÖVP-Mitglied werde aber jedenfalls bleiben, so Karas.
"Politisches Versagen"
Karas richtete seine Kritik nicht nur an die Volkspartei, sondern auch an andere Parteien, bei manchen Aussagen blieb das Ziel seiner Kritik offen: Man dürfe sich nicht den Rändern anbiedern und diese kopieren, „damit geht jegliche Glaubwürdigkeit verloren“. Das könnte sich an die ÖVP, aber auch an die heutige SPÖ gerichtet haben.
Der langjährige EU-Politiker ortet ein allgemeines „politisches Versagen“, konkret eine „mangelnde Debattenkultur in und zwischen den Parteien“, einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung in politische Institutionen sowie ein „völlig verschobenes Verantwortungsgefühl“. Karas verwies auf „Scheindebatten statt echten Lösungen“, wie er sagte: „Wir brauchen eine Politisierung der Politik“.
Bargeld-Debatte "sinnlose Emotionalisierung"
In einem Punkt richtete sich Karas direkt an seine eigene Partei, als er über „sinnlose Emotionalisierung und Polarisierung“ sprach: die Bargeld-Debatte im Sommer. „Das Bargeld wird seit Jahren missbraucht, um neue Ängste zu schüren. Solche Debatten sind das Spielen mit Ängsten ohne faktischen Hintergrund. Das stärkt am Ende nur jene, die keine Lösungen wollen, namentlich die FPÖ.“
Karas sagte auf dem Pressetermin auch, dass die größten Spannungen mit der ÖVP im Bereich Asyl und Migration bestünden. „Ich glaube, dass wir hier einen breiten Konsens gefunden hätten. Es scheitert aber an der Sprache, an der bewussten Polarisierung und auch am mangelnden Willen an einer europäischen Lösung.“ Ihm gehe es „unheimlich auf die Nerven“, so Karas, dass er als Linker tituliert werde, nur weil er sich für sichere Fluchtwege einsetze. „Das Sterben im Mittelmeer muss ein Ende haben“, so Karas. Sichere Außengrenzen und sichere Fluchtwege schließen einander nicht aus.
Enttäuschung über Stocker-Aussendung
In seiner Rede räumte Karas auch menschliche Enttäuschung ein, unter anderem auch wegen einer kritischen Aussendung von ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker. „Es geht mir nicht darum, gegen jemanden zu sein, sondern für etwas einzustehen“, sagte Karas. Er verwies auf den ehemaligen ÖVP-Chef und langjährigen Außenminister Alois Mock, der sein Mentor und Freund gewesen sei. Dennoch sei er, Karas, bei der Besetzung der Hainburger Au dabei gewesen, obwohl Mock dagegen war. „Mein Kurs der Ehrlichkeit hat über Jahrzehnte bei Wahlen zum Erfolg geführt. Ich bin aus Überzeugung meinen Weg gegangen und habe nicht geschwiegen, wenn ich anderer Meinung war. Das muss eine demokratische Partei auszuhalten. Es ist für einen Diskurs notwendig.“
Karas war 1999 für die Volkspartei ins EU-Parlament eingezogen. Von 2006 bis 2009 sowie von 2011 bis 2019 leitete der die ÖVP-Delegation. Im Jänner 2022 wurde der gebürtige Niederösterreicher zum Ersten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments gekürt. Dieses Amt bekleidete er zuvor bereits von 2012 bis 2014 sowie von 2019 bis 2022.
Die Reaktionen anderer Parteien - sowie auch der ÖVP - ließen nicht lange auf sich warten. Die Neos und die SPÖ bedauerten den Schritt von Karas. Die pinke Vorsitzende Beate Meinl-Reisinger nannte Karas den "letzten aufrechten Europäer" der ÖVP, SPÖ-Abgeordneter Andreas Schieder sieht die Volkspartei "am Ende als christlich-soziale Europapartei". Die FPÖ sprach von einem "Zerfallsprozess".
Interessanter aber die Reaktion der Volkspartei selbst: Generalsekretär Stocker nahm die Entscheidung von Karas "zur Kenntnis". Man wünsche ihm für die Zukunft alles Gute. "Es ist aber nichts Neues, dass sich die Positionen der Volkspartei sowie jene von Othmar Karas insbesondere in den vergangenen Jahren immer weiter voneinander entfernt haben“, so Stocker.
ÖVP mit Kritik an Karas und der EU
Schärfer fiel die Reaktion aus seinem Heimatbundesland Niederösterreich aus, und zwar nicht nur in Richtung Karas, sondern der EU. "Als Partei der Mitte ist der Volkspartei der Weg ohne Verbote und Zwänge ein zentrales Anliegen. Insbesondere in den vergangenen Jahren hat sich die EU mit neuen Verboten und Vorschriften immer mehr selbst überboten – bis hin zum Verbrennerverbot", so Landesgeschäftsführer Matthias Zauner.
Die Aufgabe der Volkspartei sei, auf allen politischen Ebenen für die in der Bevölkerung mehrheitsfähigen Standpunkte der Mitte einzutreten, so Zauner in einer Aussendung. "Dabei spricht das Abstimmungsverhalten mancher ein eindeutiges Bild. Dass dieser konsensorientierte Weg nicht von allen mitgetragen wird, ist leider zur Kenntnis zu nehmen. Es ist das absehbare Ende einer schon lange andauernden Entwicklung. Die inhaltliche Trennung, die Karas in den letzten Jahren immer deutlicher gemacht hat, hat er nun auch strukturell vollzogen." Wenn Karas jetzt sage, die Volkspartei sei aus seinem Blickwinkel nicht die Partei der Mitte – dann ist dies, wenn man sich all seine Positionierungen der letzten Jahre ansieht, die größtmögliche Bestätigung, dass wir es sind.