Gleich drei Regierungsmitglieder machen sich am Montagabend auf den Weg nach Ankara. Um Migration, Wirtschaftsbeziehungen und geopolitische Entwicklungen in Bezug auf Russland und die Ukraine soll es gehen, wenn Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Dienstag den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan trifft. Auch Wirtschaftsminister Martin Kocher und Innenminister Gerhard Karner (beide ÖVP) sind an Bord.
Zu bereden gibt es zwischen Wien und Ankara vieles. Nicht nur lebt eine große türkische Community in Österreich, auch ist das Land am Bosporus trotz dessen wirtschaftlicher Probleme für heimische Unternehmen interessant: Im ersten Halbjahr 2023 lag die Türkei auf Platz 17 der wichtigsten Exportnationen für Österreich, bei den Importländern auf Platz 18. Dann gibt es noch den Dauerbrenner Migration: Die Türkei liegt am Beginn der politisch heiß diskutierten Balkanroute, über die Menschen den Weg nach Mitteleuropa suchen. In Migrationsfragen müssten die Europäische Union und die Türkei zusammenarbeiten, "ob man will oder nicht", sagt Cengiz Günay, Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip).
"Die Türkei wird in Österreich wie ein innenpolitisches Thema behandelt"
Und doch werden die Beziehungen zwischen Wien und Ankara immer wieder von teils heftigen Auseinandersetzungen überschattet. "An der türkischen Regierung gibt es viel zu kritisieren, doch in Österreich wird die Türkei oft wie ein innenpolitisches Thema behandelt", sagt Günay. Debatten wie etwa um illegale österreichisch-türkische Doppelstaatsbürgerschaften würden kulturalistisch geführt, die Parteien versuchen, das Thema Türkei populistisch zu verwerten.
Schon in den frühen 2000er-Jahren versprach etwa der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) eine Volksbefragung, bevor das Land dem Beitritt der Türkei zur EU zustimmen würde. Die SPÖ-Kanzler Alfred Gusenbauer und Werner Faymann erneuerten in den darauffolgenden Jahren das Versprechen.
Kern forderte Abbruch der Beitrittsverhandlungen
Einen vorläufigen Tiefpunkt erreichte das Verhältnis zwischen Wien und Ankara im Jahr 2016. Auf einen gescheiterten Putschversuch folgte eine Verhaftungswelle von möglichen Regierungskritikern in der Türkei, mehr als 100.000 Beamte wurden entlassen oder beurlaubt. Der damalige Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) forderte einen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) ortete "immer autoritärere Züge". Dass in Österreich Pro-Erdogan-Demonstrationen abgehalten wurden, sorgte innenpolitisch für zusätzlichen Ärger.
Es folgte ein heftiger Schlagabtausch, der türkische Außenminister Melvüt Çavuşoğlu bezeichnete die Alpenrepublik als "Hauptstadt des radikalen Rassismus" und kündigte an, "auf allen Ebenen gegen Österreich auftreten" zu wollen. Auch auf der türkischen Seite habe man versucht, auf populistische Weise innenpolitischen Profit aus den Reibereien zu schlagen, sagt Günay dazu.
Nehammer traf Erdogan bereits 2022
Unter Nehammer ist der Konflikt abgekühlt, bereits im Vorjahr traf der Bundeskanzler den türkischen Staatschef in Madrid. "Kurz hat in Erdoğan einen strategisch gewählten Reibebaum gefunden", sagt Politikberater Thomas Hofer. Nehammer habe das Thema Türkei dagegen "deutlich weniger hoch gehängt". Eine Kehrtwende der türkisen Türkei-Politik zeichnet sich zwar nicht ab, so forderte Nehammer etwa erst kürzlich wieder das offizielle Ende der seit Jahren eingefrorenen EU-Beitrittsgespräche. Doch zumindest im Stil sei der Umgang mit der Türkei ein anderer, so Günay. Und auch die Türkei habe wieder mehr Interesse an guten Beziehungen zu Europa. "Die Türkei steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Jeder Investor ist willkommen."
Auch innenpolitisch könnte Nehammer von der Reise profitieren, glaubt Hofer. Abgesehen von inhaltlichen Überlegungen, gebe sie dem Kanzler die Möglichkeit, sich als Staatsmann zu präsentieren und zu zeigen, "man wird ernst genommen, man spielt auf einer Ebene, auf der andere nicht spielen können". Das Treffen mit dem türkischen Präsidenten sei für den ÖVP-Chef außerdem eine willkommene Möglichkeit, den Fokus weg von der zuletzt um fehlgeleitete E-Mails und geleakte Videos kreisenden innenpolitischen Debatte zu lenken. "Er kann versuchen, sich über das zu stellen, und sagen: 'Jetzt reden wir wieder über Wesentliches'", sagt der Politikberater.