Meist ist von der "unabhängigen Justiz" die Rede, dabei sind nur die Richterinnen und Richter unabhängig.

PETER BUSSJÄGER: Es ist interessant, dass die Staatsanwaltschaft zumindest verfassungsrechtlich noch nicht sehr lange Teil der Justiz ist. Das wurde erst 2008 klargestellt. Die Verfassung zählt sie zur Gerichtsbarkeit, will aber gleichzeitig, dass sie ein weisungsgebundenes Organ ist, was sie wohl auch künftig sein wird. Tatsächlich unabhängig ist in der Justiz allein die richterliche Entscheidung, obwohl auch die Staatsanwälte gewisse dienstrechtliche Absicherungen gegenüber ihren Vorgesetzten haben.

Manche Verfahren, etwa gegen den Ibiza-Detektiv, wurden von jenen am lautesten kritisiert, die das Vorgehen gegen Ex-Kanzler Kurz befürworten – und umgekehrt. Wann überschreitet Kritik die Grenzen des Konstruktiven?

Konstruktive Kritik ist ein sehr weites Feld und umfasst natürlich die sachliche Auseinandersetzung mit einem Verfahren, einer Anklageerhebung oder einem Urteil. Dazu zählt auch, wenn man feststellt, dass die bisherige Verurteilungsquote bei den öffentlich stark diskutierten Verfahren der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gering ist. Eine solche Kritik ist auch dann legitim, wenn man bedenkt, dass jedes Ermittlungsverfahren zu Beginn auf eine behördliche Vermutung zurückgeht. Destruktiv beginnt es dort zu werden, wenn Kritik an Verfahren oder Urteilen die dahinterstehenden Personen persönlich angreift. Diese Menschen handeln nicht im luftleeren Raum, das muss bei solchen Debatten immer mitbedacht werden. Wenn man nur geprügelt oder nur in eine bestimmte Richtung gedrängt wird, halte ich das für gefährlich. Niemand steht völlig über den Dingen, das wäre wider die menschliche Natur.

Wie geht die Rechtsprechung mit Kritik an der Justiz um?

Hier wurde in den vergangenen Jahren in Grundsatzurteilen die Meinungs- und Pressefreiheit gestärkt, dieser Trend ist richtig und wichtig. Von daher muss sich die Justiz auch Kritik gefallen lassen, die persönlich und untergriffig argumentiert. Anders als früher stehen Richterinnen und Richter wie auch andere staatlichen Organe nicht mehr unter "Naturschutz", wie dies auch schon bezeichnet wurde. Die Justiz muss sich ihrer Rolle und Verantwortung stellen, und dazu gehört heute auch harte Kritik, wie sich anhand der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nachvollziehen lässt. Nur enthebt das nicht die Medien ihrer Verantwortung in diesem Bereich.

Video: Darum geht es im Kurz-Prozess

Wie steht es um die Fehlerkultur in der Justiz?

Das ist zugegeben heikles Terrain. In der Verwaltung tut man sich verhältnismäßig leicht: Wenn hier die Verantwortlichen wirklich einmal ein fragwürdiges Verhalten transparent aufarbeiten wollen, wird einfach eine Untersuchungskommission mit einer unabhängigen Leitung eingesetzt, die dann einen Bericht erstellt und veröffentlicht. Das war so beim Terroranschlag in Wien oder bei den Vorgängen in Ischgl zu Beginn der Pandemie. Auf diese Weise kann allfälliges Fehlverhalten nachzeichnet, benannt und zugewiesen werden. Die Justiz hat nach meinem Eindruck, aber vielleicht täusche ich mich, dagegen eine gewisse Scheu, Personen aus den eigenen Reihen in dieser Form herauszustellen. Im Vergleich zur Verwaltung ist die Fehlerkultur in der Justiz daher eher noch weniger ausgeprägt. Das hat mit dem Verständnis der eigenen Unabhängigkeit zu tun, zumal ja Fehler in der Regel im justizinternen Instanzenzug ausgebügelt werden können, wie es etwa bei der BVT-Razzia der Fall war, wo das Oberlandesgericht die Razzia für unzulässig erklärt hat.

Allerdings war da der Schaden bereits angerichtet.

Ja, das ist richtig.

Österreich hat lange auf das Modell politisch neutraler Justizminister gesetzt, wohl um sich gegen den Verdacht einer parteipolitischen Justiz zu immunisieren.

Mir kommt vor, wiederum ganz vorsichtig formuliert, dass das Thema Parteipolitik in der Justiz totgeschwiegen wird, auch wenn es eine Selbstverpflichtung der Richterschaft gibt, keiner Partei anzugehören. Die Schweiz handhabt das Thema ganz anders: Deren Justiz ist, jedenfalls nach unserem Verständnis, stark politisiert, weil Richter und Richterinnen gewählt werden und die Gewählten auch selbst dokumentieren, welcher Partei sie nahestehen. Das hat unter anderem den Effekt, dass deren Entscheidungen zu sensiblen Themen wie etwa Asyl nach deren politischer Einstellung transparent aufgezeigt werden können. In meinen Augen ist das vorbildhaft, während wir in Österreich dieses Thema eher verschämt verschweigen.

Welche Konsequenzen sollten wir daraus ziehen?

Wirksame Compliance-Regeln sind umso wichtiger, je weniger offen über solche Themen geredet wird. Der Fall von Wolfgang Brandstetter hat gezeigt, dass es nicht ratsam ist, wenn ein Justizminister direkt von der Regierungsbank an den Verfassungsgerichtshof wechselt. Hier braucht es eine Cooling-off-Phase. Es geht darum, die Möglichkeiten der Parteien, bei Bestellungen Einfluss auszuüben, so weit wie möglich zurückzudrängen, etwa durch Selbsterneuerung.

Der Konflikt in Israel zeigt, dass auch dies Risiken birgt, weil die gesamtgesellschaftliche Rückkoppelung leiden könnte.

Ein solches Risiko besteht immer. Hans Kelsen hat uns mit seinem Konzept der Verfassungsgerichtsbarkeit ein gutes Instrument in die Hand gegeben. Diese sorgt dafür, dass sich die Gerichtsbarkeit auf die Rechtsprechung beschränkt und die Gesetzgebung der Politik überlässt. Allerdings ist kein Gericht vor politischem Aktionismus gefeit, zumal wir aktuell gerade eine Situation erleben, die das auch begünstigt.

Sie spielen auf die Urteile zu Umwelt- und Klimaschutz?

Ja. Die Klimakrise ist eine Tatsache. Außer Zweifel steht zudem, dass die bisherigen Maßnahmen der Politik wohl nicht ausreichend sind. Dieser Mangel begünstigt richterlichen Aktivismus. Persönlich sehe ich solche Entwicklungen skeptisch, weil die Handlungsnotwendigkeit des Staats unbestritten ist. Und wo setzen die Gerichte an? Erklären sie Tempo 130 auf Autobahnen für unzulässig oder die private Ölheizung oder beides? Die Gesetzgebung muss Sache demokratischer Politik sein und bleiben, sonst würde die Legitimation der Gerichte Schaden nehmen.