Nachdem am Mittwochabend ein Video auf Twitter aufgetaucht ist, das Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) in geselliger Runde zeigt, erntet der Kanzler dafür am Donnerstag Kritik. In der Aufnahme empört er sich über Frauen, die in Teilzeit arbeiten, die Diskussion um Kinderarmut und die Sozialpartnerschaft. Empört über das Video hingegen zeigen sich ÖGB, Caritas, die Opposition und der grüne Koalitionspartner. Der Kanzler rechtfertigte sich in einem Video auf Twitter.
Christian Stocker ortet "schmutzige Angriffe"
Mit "Hast du schon die Diskussion auf Social Media um ein Video von mir gesehen?" adressiert Nehammer seine Follower und Followerinnen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter (X) und verteidigt den Inhalt des umstrittenen Videos: "Ich stehe dazu, dass sich Leistung lohnen muss, und ich stehe dazu, dass Eltern eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder haben". Und weiters: "Wer davon spricht, dass es in Österreich keine warme Mahlzeit für Kinder gibt, der stellt dieses Land in ein schlechtes Licht."
Die Verantwortung dafür liege aber bei den Eltern. Bei jenen Familien, die nicht zurecht kämen, greife das soziale Netz, ist Nehammer überzeugt. Während andere Videos "zusammenschneiden und verkürzen" will sich der Kanzler "unser Österreich" nicht schlechtreden lassen, denn "die Schlechtredner werden nichts besser machen." Generalsekretär Christian Stocker ortet in der Diskussion "schmutzige Angriffe" der Opposition, die sich bereits im "Wahlkampfmodus" befinde.
"Ich habe mit meinen Sozi-Freunden oder linken Freunden, das ist jetzt ein Euphemismus, könnt's euch vorstellen, das sind keine Freunde (...)" startet das sechsminütige Video, aufgenommen bei einem Besuch bei der ÖVP Hallein Ende Juli. Was folgt, ist eine Empörungsrede Nehammers vor Parteifreunden. Etwa über Frauen, die in Teilzeit arbeiten, obwohl sie keine Betreuungspflichten haben. Aber auch wenn es heiße, es gebe Kinder, die keine warme Mahlzeit bekämen, regt das den Kanzler auf: "Wisst's was die billigste warme Mahlzeit in Österreich ist? Ist nicht gesund, aber sie ist billig: ein Hamburger bei McDonald's", so Nehammer.
In dieser Diskussion dürfe man sich nicht verlieren. "Dann heißt das: Jeder Elternteil hat sein Kind beim Staat einzumelden, wir machen Kalorientabellen, wir schauen wie viel Essen kriegt das Kind, wie wird's ernährt und dann sind wir in der DDR."
"Ja, ja, ich bin bei Dir, ich komm zu dem", ruft der Kanzler einem Zuhörer zu, der die Rede unterbricht und meint, er habe kein Problem damit, wenn jemand 30 Stunden arbeite oder 20, aber "ohne Subventionen von uns allen, die fleißig arbeiten." Nehammers Antwort: "Was ist in Österreich real? Real ist, über all das hab ich mich mit Dir gar nicht unterhalten. Warum? Weil dann kommt nämlich die Gewerkschaft her und die Wirtschaftskammer her und sagt: "He, putz di, Sozialpartnerschaft, Sozialpartnerschaft!" Kurz bevor das Video endet, gibt Nehammer dem Publikum noch eines mit: "Wir sind alle gelernte ÖVPler, wir wissen, was leiden heißt."
Zur Urheberschaft des Videos meldete sich Donnerstagabend die ÖVP-Salzburg zu Wort. Es sei von einem Besucher aufgenommen worden, "der es an Freunde und Gruppen weitergeleitet hat, weil er von den klaren Aussagen des Kanzlers zum Mittelstand, zu Leistung und Eigenverantwortung begeistert war", hieß es.
Die Gewerkschaft, die Nehammer im Video auch als größten Bremser bei der "Rot-weiß-rot"-Card bezeichnet, zeigt sich über die Rede des Kanzlers schockiert. "Die Sozialpartnerschaft hat einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung von Krisen geleistet, insbesondere durch Maßnahmen wie die Kurzarbeit. Die Behauptung des Kanzlers, dass die Sozialpartnerschaft ein Hindernis sei, ist für uns nicht nachvollziehbar. Sie ist ein Erfolgsmodell für unser Land und hat maßgeblich zu unserem Wohlstand beigetragen. Für uns sind die Aussagen des Kanzlers daher absolut unverständlich", sagte Vizepräsidentin Korinna Schumann zur APA. Die Wirtschaftskammer wollte die Aussagen gegenüber der APA nicht kommentieren.
Andreas Babler reagierte ...
SPÖ-Parteichef Andreas Babler berief wiederum am Donnerstag eigens eine Pressekonferenz ein, um auf das Video zu reagieren. Dabei sparte er nicht mit Kritik: "Wir sehen in dem Video einen Bundeskanzler, der die Leute für etwas verachtet, das er selbst zu verantworten hat. Nehammer bindet den Leuten die Schuhe zusammen, und wenn sie fallen ruft er 'steht auf und rennt weiter'." Fast jede Frau, die in Teilzeit arbeite, müsse das aufgrund von Betreuungsverantwortung tun. In seiner Ansprache ließ Babler es sich auch nicht nehmen, aus seiner Kindheit zu berichten. Seine Mutter habe ihn in die Arbeit mitnehmen und dort verstecken müssen, damit sie keinen Ärger bekomme. Österreich habe sich einen Bundeskanzler verdient, der die Menschen respektiere, und nicht "23.000 Euro im Monat schwer bei Wein und Käsehappen" über sie urteile.
Mit Blick auf die Nationalratswahl in rund einem Jahr, sagte Babler, sehe man in dem Video zumindest, "was uns unter der nächsten schwarz-blauen Regierung blühen könnte." Nehammer richte uns heute aus, "dass die Löhne nicht erhöht werden sollen, morgen dass die Pensionen nicht erhöht werden und übermorgen, dass beim Gesundheitssystem gespart wird." Auf eine Journalistenfrage nach einer möglichen Koalition mit der ÖVP unter Karl Nehammer antwortete Babler, "es würde jeder ausscheiden als Koalitionspartner, der Menschen nicht mag."
Kogler bleibt gelassen
Bei einer Pressekonferenz am Donnerstag auf das Video angesprochen, sagte Vizekanzler Werner Kogler er habe einiges von dem Video gehört, dieses aber noch nicht gesehen. "Ich werde mich dann ärgern, wenn ich es mir angeschaut habe, oder auch nicht." Kogler lobte hingegen die Regierungsarbeit, explizit das Paket gegen Kinderarmut. "Wenn das (Video, Anm.) jetzt Aufmerksamkeit erregt - möglicherweise berechtigt - dann ist doch ein guter Zeitpunkt für die Regierung und auch für den ÖVP-Teil, das was angekündigt wurde (...) beschleunigt anzugehen." Klubobfrau Sigrid Maurer präzisierte auf Twitter: "Die Teilzeitquote wird sich erst dann ändern, wenn es tatsächlich Wahlfreiheit gibt - mit einem entsprechenden Ausbau der Kinderbetreuung. Das hat der Kanzler selbst angekündigt - es ist jetzt ein guter Zeitpunkt diesen Worten Taten folgen zu lassen."
Als zynisch bezeichnet es der grüne Sozialminister Johannes Rauch, Menschen in Not auszurichten, sie seien selbst schuld oder sollen ihren Kindern Fast Food servieren. "In der Regierung arbeiten zwei sehr unterschiedliche Parteien mit teils sehr unterschiedlichen Werthaltungen zusammen. Der Bundeskanzler sagt ja selbst am Ende dieses Videos, dass seine Vorstellungen mit den Grünen nicht durchzusetzen sind. Und das ist gut so." Auch er lobt die von der Regierung aufgrund der Teuerung beschlossenen Entlastungsmaßnahmen. "Wir können und wollen nicht zuschauen, wie Kinderarmut zunimmt: Deshalb gibt es zusätzlich 60 Euro pro Kind und Monat, für jene, die es besonders brauchen - die Auszahlung beginnt heute, rückwirkend ab Juli."
Neos und FPÖ mit scharfer Kritik
Mit einem Video reagierte indes der stellvertretende NEOS-Parteichef Christoph Wiederkehr. Es gehe nicht nur um ein warmes, sondern um ein gesundes Mittagessen für Kinder, betont der Wiener Vizebürgermeister auf Instagram: "Der Kanzler will offenbar jedem Kind einen Burger geben, wir NEOS wollen jedem Kind die Flügel heben. Genau deshalb haben wir in allen Wiener Ganztagsschulen mit diesem Schuljahr ein kostenloses, warmes, gesundes Essen eingeführt. Die ÖVP hat nach der Wirtschaftskompetenz nun auch die Familienkompetenz verloren."
Auch FPÖ-Chef Herbert Kickl kritisierte Nehammer scharf: "Immer dann, wenn Nehammer glaubt, unter Seinesgleichen zu sein, bricht bei ihm diese Mentalität durch, die man aus der Führungsmannschaft der ÖVP nur allzu gut kennt - Stichwort Pöbel! Ein Politiker, der derart empathielos, abgehoben, eiskalt und eine derartige Verachtung für die armutsgeplagten Menschen an den Tag legt, ist für den Job als Bundeskanzler ungeeignet."
Klare Worte kamen am Mittwochabend auch von Caritas-Präsident Michael Landau. "In Österreich muss niemand verhungern oder im Winter erfrieren. Weil wir in der Geburtsortslotterie einen Haupttreffer gezogen haben. Aber wer sagt, dass in Österreich niemand hungert oder friert, hat von der Wirklichkeit der Menschen keine Ahnung", schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst. Auch die Volkshilfe, die in einer Aussendung darauf hinwies, dass Mangelernährung bei Kindern kein Mythos sei, kritisierte Nehammer: "Wenn sich der Bundeskanzler der Republik Österreich hinstellt und den armutsbetroffenen Familien ausrichtet, sie sollen den halbwarmen Burger aus dem Fast-Food Restaurant als adäquate Ernährung ansehen, dann ist das zynisch", sagte die Kinderarmutsexpertin Hanna Lichtenberger.