Dass ein Botschafter ins Außenministerium seines Gastlands zitiert wird, ist keine Seltenheit. Die Gründe können vielfältiger Natur sein: Nach den Koran-Verbrennungen in Stockholm wurden einige schwedische Botschafter in den arabischen Staaten ins jeweilige Außenministerium gebeten. Großbritannien bestellte den russischen Botschafter ein, nachdem ein Dissident in Moskau zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Kürzlich musste der ungarische Botschafter im Außenministerium in Wien antanzen, weil Ungarn Schlepper im großen Stil vorzeitig aus der Haft entlassen hatte. Gelegentlich können auch provokante oder flapsige Aussagen ein solches diplomatisches Manöver nach sich ziehen: Chinas Botschafter in Paris hatte den baltischen Staaten das Existenzrecht abgesprochen.
Ungewöhnlicher Vorgang
Dass ein Botschafter zum Rapport in die Heimat zitiert wird, ist höchst ungewöhnlich. Normalerweise passiert dies bei persönlichen Verfehlungen. Einen Bericht muss nun der EU-Botschafter in Wien, Martin Selmayr, in Brüssel abliefern, allerdings nicht weil er silberne Löffel gestohlen oder mehrere rote Ampeln überfahren hatte. Ob er zur Berichterstattung in die belgische Hauptstadt reisen muss, steht in den Sternen. Der EU-Diplomat hatte bei einer Veranstaltung bei einer Diskussionsveranstaltung einer Kunstmesse in Wien beiläufig angemerkt, dass Österreich wegen seiner Gasabhängigkeit von Moskau "Blutgeld" nach Russland überweise.
Ein langer Tweet als Stein des Anstoßes?
Man kann davon ausgehen, dass die Brüsseler Kommission mit Ursula von der Leyen an der Spitze nicht aus eigenem Antrieb diesen Schritt gesetzt hat. Womöglich gingen dieser Aktion das eine oder andere bitterböse Telefonat mit Wien, konkret mit der Regierungsspitze, voraus. Zwischen dem Kanzler und der Kommissionspräsidentin hängt schon länger der Haussegen schief. "Wenn ihr so weiter macht, dürft ihr euch nicht wundern, wenn eines Tages nur noch Rechtspopulisten bei EU-Gipfeln am Tisch Platz nehmen", soll Karl Nehammer kürzlich der Kommissionschefin erklärt haben. Aus Sicht des Kanzlers verfolgt Brüssel in Asylfragen einen zu milden, in der Klimapolitik einen zu rigiden Kurs.
Zu diesen Verwerfungen trug aus Sicht des Kanzlers auch Selmayr bei. Wenige Tage nachdem ÖVP-Chef Karl Nehammer seine Forderung nach dem Bargeld in der Verfassung erhoben hatte, machte der Kommissionsvertreter in einem längeren Tweet unter Verweis auf die europäischen Regularien deutlich, dass der Euro als Bargeld in keiner Weise in Gefahr sei. Im Gegenteil: Brüssel habe vor dem Sommer den EU-Staaten den Auftrag erteilt, den Zugang zum Bargeld zu garantieren.
Antrittsbeginn mit dem Rad, nicht mit dem Flugzeug
Mit Selmayr hat es nun einen ausdrücklichen Österreich-Freund erwischt. Kaum ein anderer der in Wien akkreditierten Botschafter dürfte so viel zwischen Boden-, Wörther- und Neusiedler See unterwegs sein wie der gebürtige Deutsche, der seit 2019 die Vertretung der EU-Kommission in Wien leitet. Vor vier Jahren reiste er nicht mit dem Flugzeug oder dem Auto, sondern mit dem Fahrrad nach Wien an – von Passau aus über den Donauradweg bis in die Bundeshauptstadt.
Kurzurlaub in der Südsteiermark
Um mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, kurvte er 2021 gemeinsam mit Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, mit dem Fahrrad durch jedes einzelne Bundesland. Im heurigen Jahr standen Bergtouren am Programm, in der Steiermark wurde der Schöckl, in Kärnten der Dobratsch, in Niederösterreich die Rax bezwungen. In seinem Urlaub zieht es ihn dann und wann auch in die Südsteiermark oder nach Kärnten.
Seine Österreich-Liebe dürfte auch mit seiner Biografie zu tun haben. Der gebürtige Bonner studierte nicht nur Rechtswissenschaften in Passau, drei Jahre arbeitete der 53-Jährige als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europarecht in der Donau- und Innmetropole. Sein Studium schloss er "summa cum laude" ab. Nebenbei unterrichtet Selmayr heute in Passau wie auch in Krems, Wien und Saarbrücken.
Selmayr begann als No-Name in Brüssel
2000 ging Selmayr als Pressesprecher nach Brüssel. Unter den Journalisten war er damals ein No-Name, er war das Sprachrohr der für die Informationsgesellschaft verantwortlichen luxemburgischen EU-Kommissarin Viviane Reding. Die "Luxemburg-Connection" dürfte zu einem späteren Karrieresprung nicht unmaßgeblich beigetragen haben. 2014 leitete er den Wahlkampf des späteren Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, nach der Wahl wurde er nicht nur Junckers Kabinettschef, sondern stieg zu einem der mächtigsten Strippenzieher der EU auf, der seinen Machiavelli gut studiert und mitunter auch das Spiel mit der Intrige beherrscht hat. "Mein Monster" soll ihn Juncker einmal bezeichnet haben, "Politico" verglich ihn mit "Lord Voldemort". Den französischen wie auch den britischen Medien diente der Deutsche als willkommenes Feindbild.
Von der Champions League in die Regionalliga
Nach Junckers Abgang und dem Wechsel an der EU-Spitze musste auch Selmayr sein Büro räumen. Statt in Brüssel als weißer Elefant zu bleiben, entschied er sich für Österreich. Politisch wechselte er 2019 freilich von der Champions League in die Regionalliga. Seine Rolle als EU-Botschafter sieht er wohl in erster Linie darin, den Österreicherinnen und Österreichern das europäische Projekt argumentativ näherzubringen. Lieber als bei diplomatischen Empfängern hält sich der umgängliche, stets freundliche Selmayr an Schulen, in Diskussionsveranstaltungen, bei Stammtischen auf. Da kann es dann schon vorkommen, dass er sich einer undiplomatischen Sprache bedient. Die im jetzt zum Verhängnis geworden ist.