Sie haben sich in den Ferien zur Schreibklausur zurückgezogen, um ein Jahr vor der Wahl ein Buch über Visionen für Österreich zu schreiben. Was sind diese Visionen?

BEATE MEINL-REISINGER: Was mich gerade umtreibt, sind die Scheindebatten, die geführt werden. Es gibt unfassbar viel zu tun, damit wir nicht absandeln. Gleichzeitig geht es nur noch um Kulturthemen. In den sozialen Medien schlagen sich die Menschen die Schädel ein, der Vertrauensverlust ist riesig, es passiert nichts.

Sie spielen auf die Normalitäts- und Genderdebatte an?

Ich bin ratlos und sauer. Ausgehend vom Kanzler, haben wir eine Debatte, was normal ist – und das in einer Zeit mit einer enormen Inflation, in manchen Bereichen einer Rezession. Im Gesundheits- und Bildungssystem kracht's, die Herbstlohnrunde steht an, und der Finanzminister ruft zur Zurückhaltung auf, während die Pensionen ohne Diskussion flächendeckend um zehn Prozent erhöht werden. Das ist eine echte Pflanzerei der Bevölkerung und eine Infantilisierung der Politik, die uns ins Verderben bringt.

Es geht um die Erosion der politischen Mitte.

Es ist nicht Aufgabe des Kanzlers, zu sagen, was normal ist und was nicht. Ich brauche den Herrn Nehammer nicht, um zu erfahren, dass der Extremismus nicht normal ist. Vielleicht regt mich das auch deswegen so auf: Wenn ich in der Mitte stehen und mir Sorgen mache über die Polarisierung, Populisten, auch Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand, will ich nicht einen Kanzler haben, der normal denkt, sondern einen, der vorausdenkt. Ich habe einen guten Draht zu Hannes Androsch …

Den einstigen SPÖ-Finanzminister unter Bruno Kreisky ...

Ich habe ihn gefragt: Was haben Sie damals in der Ölkrise gemacht? Er hat geantwortet: nichts. Wir haben Sparanreize gesetzt, den autofreien Tag eingeführt und investiert, damit das Wachstum anspringt und der Wohlstand gesichert ist.

Soll die Regierung nichts tun?

Das wäre besser gewesen als die Gießkannenpolitik, deren Ziel es nicht war, die Schwächsten zu fördern, sondern einen unerträglichen Klientelismus zu bedienen. Das hat die Inflation angefacht.

Alles ist teuer, der Strom, das Bier. Was hätten Sie gemacht?

Wir sind ein reiches Land. Die Schwächsten, die kein oder wenig Einkommen haben, muss man unterstützen. Dort fährt die Inflation brutal rein, aber keine Gießkanne. Man muss die Menschen entlasten. Die Abschaffung der kalten Progression war richtig, wir hätten das vorgezogen und zu 100 Prozent gemacht. Entscheidend ist, dass man vor der Lohnrunde auf der Kostenseite bei den Arbeitgebern den Spielraum für ordentliche Lohnabschlüsse schafft. Es kann nicht sein, dass der Finanzminister an die Arbeitnehmer appelliert: Seid moderat! Angesichts der Reallohnverluste, der Immobilienpreise, der Gewinne der Energieversorger ist es der falsche Ansatz.

Was soll der Finanzminister machen?

Wenn er die Lohnnebenkosten um sechseinhalb Prozent kürzt, schafft er einen Spielraum von neun Milliarden. Man könnte etwa die Kammerumlage 2 streichen, die temporär eingeführt, aber nie abgeschafft wurde. Es geht um einen Spielraum von fünf Prozent mehr Nettolohn, ohne dass die Arbeitgeber zur Kasse gebeten werden.

Dann könnten Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleich mit dem Finanzminister verhandeln.

Nicht verhandeln, ihm auf die Füße steigen. Es steht auch die Frage im Raum: Was ist mit den Interessenvertretern los? Machen die nur noch ÖVP-Politik? Vertritt Harald Mahrer die Interessen der Wirtschaft? Warum ist er so genügsam mit den Rücklagen in Milliardenhöhe in der Kammer, wo es doch heißt, die Rücklagen sind für schlechte Zeiten da?

Sie haben die Pensionserhöhung angesprochen. Sollen sich die Pensionisten mäßigen?

Darum geht es nicht. Wir müssen uns fragen, was für alle Gruppen der Gesellschaft gerecht ist. Für die Pensionistinnen und Pensionisten, die Jungen, alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bei einer Erhöhung um die zehn Prozent gibt der Bund bis 2030 über 30 Milliarden für Pensionen aus – ein Drittel des Bundesbudgets.

Sie wollen, dass die Pensionisten den Gürtel enger schnallen?

Nein. Was haben bisherige Regierungen gemacht? Sie haben die heilige Kuh Pensionsantrittsalter nicht antastet, dafür aber den Durchrechnungszeitraum so verändert, dass im Endeffekt weniger Pension herauskommt. Wir wollen, dass die Leute länger arbeiten, aber auch eine hohe Pension bekommen. Ein Teil des Umlagesystems soll um eine Aktienpension ergänzt werden. Politiker können bereits einen Teil ihrer Bezüge in eine Pensionskasse stecken, was die Grundlage für die Steuerberechnung mindert. Warum geht das nicht für alle?

Sie lehnen eine Pensionserhöhung um zehn Prozent ab?

Ich glaube nicht, dass das gerecht ist, wenn gleichzeitig der Finanzminister all jenen, die mit ihren Steuern und Abgaben alles finanzieren, ausrichtet, dass sie sich mäßigen sollen. Wir brauchen einen Plan, wie wir das fair und im Sinne eines starken Generationenvertrags lösen können.

Was halten Sie von der Nulllohnrunde für Spitzenpolitiker?

Man kann das schon machen. Das ist allerdings auch so ein populistischer Eiertanz, der von den eigentlichen Problemen ablenkt. Was mich aber stört: Man sendet das Signal aus, dass wir eh unnötig sind. Wobei das für viele Regierungspolitiker ohnehin stimmt.

Ist der Staat zu gefräßig?

Viel zu gefräßig. Es wird jedes Problem mit Geld beschmissen. Wir haben ein gewaltiges strukturelles Problem im Gesundheitssystem. Es gibt viele Menschen, die sagen, ich zahle gerne Steuern, um in einem sicheren Land zu leben, mit einem funktionierenden Gesundheitssystem. Doch 3,3 Millionen Menschen haben noch eine private Zusatzkrankenversicherung. Offenbar ist es zur Normalität geworden, dass man unfassbar hohe Steuern und unfassbar hohe Krankenversicherungsbeiträge zahlt und zusätzlich privat vorsorgen muss.

Brauchen wir neun Länder?

Zur Identitätsstiftung ja, zur Gesetzgebung nein. Was wir nicht brauchen, sind Länder, die keinerlei steuerliche Verantwortung haben, aber das Geld mit beiden Händen ausgeben. Man muss auch bei der Kommunalsteuer ansetzen, denn das ist der Anreiz für Herrn Riedl ...

Den Gemeindebund-Chef ...

Der Herr Riedl dürfte ein besonders korruptes Exemplar sein.

Korrupt?

Es gibt eine strafrechtliche Form der Korruption und es gibt eine von Transparency International, die darauf abzielt, ob man die eigene Position ausnutzt, um sich oder anderen einen Vorteil zu verschaffen. Dieses Kriterium erfüllt er, der als Präsident des Gemeindebundes sofort zurücktreten muss.

Gendern Sie?

Ich schreibe die weibliche und die männliche Form aus. Ich bin eine Frau, und es macht einen Unterschied, ob ich von einer Ärztin oder einem Arzt rede.

War gut, dass Justizminister Zadić ein "weibliches Gesetz" vorgelegt hat?

Ich stelle eine Gegenfrage: Wissen Sie, um welches Gesetz es geht?

Ja, es geht um flexible Kapitalgesellschaften.

Da sind wir wieder bei dem Schattenboxen und der Pflanzerei. Das Gesetz werden starke Männer aushalten.

Sie sagen, die Politik verharrt im Nichtstun, während die Ränder zulegen. In Umfragen müssten Sie bei 20 Prozent sein?

Wir steigen in den Umfragen. Es ist schwierig, Aufmerksamkeit zu bekommen, wenn man nicht populistisch ist. Populismus ist leider sehr in Mode, da tun wir nicht mit. Deshalb braucht es uns auch, weil wir dieses "Nachhupfen" nicht mitmachen. Hätten wir die Neos nicht vor zehn Jahren gegründet, würden wir es jetzt tun und sagen: "Es reicht, ihr pflanzt's uns alle." So kann es wirklich nicht weitergehen.