Wenn man mit Menschen spricht, die im Maßnahmenvollzug arbeiten, hört man – nach anfänglicher Zurückhaltung – viele Geschichten. Es sind Erzählungen von Überforderung, Hoffnungslosigkeit und Abstumpfung. Eines hört man jedoch nie: dass das System funktioniert.

Im Maßnahmenvollzug landen „geistig abnorme Rechtsbrecher und Rechtsbrecherinnen“ sowie Täter, die für die Gesellschaft auch nach ihrer Haft eine Gefahr darstellen. Sie werden dort untergebracht, bis sie als nicht mehr gefährlich gelten – und zwar zeitlich unbegrenzt. Diese besonders sensible Art des Freiheitsentzuges brachte dem Maßnahmenvollzug in den letzten 50 Jahren viel Kritik ein, Justizministerin Alma Zadić (Grüne) will ihn nun reformieren (mehr dazu weiter unten).

Fehlende Trennung und Gutachter

Wie es im Maßnahmenvollzug aktuell zugeht, berichten ein erfahrener ehemaliger Sozialarbeiter und ein Psychologe, der in einer der fünf großen Anstalten im Land tätig ist. Beide wollen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Für den Sozialarbeiter beginnt die Misere bei der Unterbringung. Er berichtet von fehlender Trennung zwischen Untersuchungs- und Haftgefangenen, die sich mit untergebrachten Patienten den Alltag teilen. „Die Zellentür ist da die einzige Trennung. Davor treffen teils 14-Jährige, die vielleicht lediglich eine gefährliche Drohung ausgesprochen haben, auf Kapitalverbrecher.“ Das stelle „eine gravierende Verletzung fachlicher Standards, Ethik und Moral“ dar.

Der Weg aus „der Maßnahme“ führt praktisch nur über entsprechende Gutachter. In einem einmal jährlich vorgesehenen, meist 20-minütigen Gespräch wird entschieden, ob vom Betroffenen weiterhin Gefahr ausgeht. Unzureichende Standards, fehlende Qualifikationen sowie zu geringe Entlohnung der Gutachter werden seit Jahren kritisiert. Eine parlamentarische Anfrage offenbarte 2014, dass mehr als ein Drittel der 2928 psychiatrischen Gutachten von nur fünf Autoren stammten.

Medikamente als Muss

Um die Gefährlichkeit der Menschen im Maßnahmenvollzug zu reduzieren, sind Therapien vorgesehen. Doch der Psychologe berichtet von einer besorgniserregenden Entwicklung der letzten Jahre. Während man früher Medikamente nur bei psychischen Ausnahmesituationen und als Ergänzung zur Therapie eingesetzt habe, „wird heute teils offen gedroht: ,Wenn du keine Medikamente nimmst, sind deine Chancen auf Entlassung dahin‘“. Die Folge: Viele Patienten würden „wie Zombies durch die Gänge wanken“. Man stelle die Leute einfach ruhig, viele von ihnen seien inzwischen medikamentenabhängig. „Wie sollen die je wieder ein normales Leben führen?“

Für tief greifende Gespräche mit den Insassen bleibe kaum Zeit, „viele Kollegen versuchen gar nicht mehr, einen Zugang zu den Leuten zu finden“. Das habe zur Folge, dass viele der Untergebrachten lernen, erwünschtes Verhalten zu zeigen – „auch aus Angst, dass das Gesagte gegen sie verwendet wird“. Andere würden ganz abstumpfen, „an die kommst du praktisch nie wieder ran“.

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Fehlende Abstimmung

Der Sozialarbeiter bemängelt zudem eine fehlende Abstimmung zwischen seinen ehemaligen Kollegen, den Therapeuten und den Justizwachebeamten. „Wer Beobachtungen teilt, wird nicht nur nicht gehört, sondern ermahnt, dass das nicht seine Baustelle ist“, erzählt er. „Dabei verbringen gerade die meisten Beamten am Tag mehr Zeit mit den Insassen als mit ihren eigenen Familien.“ Trotz dienstrechtlicher Vorschrift gebe es keinen fachlichen Austausch, was zu unkoordinierten, teils widersprüchlichen Therapieansätzen führe. Überforderung, Krankenstände und Frustration seien die Folge.

Konfrontiert mit diesen Vorwürfen heißt es aus dem Justizministerium, dass der laufende Ausbau bestehender Maßnahmezentren eine geeignete Unterbringung gewährleiste, zudem sei die interdisziplinäre Zusammenarbeit darin „gelebte Praxis“. Den Mitarbeitern biete man zudem Supervision an, um bei der „sehr fordernden“ Tätigkeit zu unterstützen. Beim Thema Medikamente wird betont, dass diese „einen wichtigen Beitrag bei der Therapie“ leisten würden und ihr Einsatz durch den chefärztlichen Dienst vor Ort überwacht werde. Die aktuelle Reform stelle zudem sicher, dass der Maßnahmenvollzug „ins 21. Jahrhundert geholt wird“.

"Das ist einfach nur dreist"

Dass diese Reform die Antwort auf die zahlreichen Baustellen im Maßnahmenvollzug sein könnte, glaubt keiner der beiden Insider. Man müsste den ambulanten Bereich ausbauen und ein Therapienetz für die Nachsorge spannen, wenn man – wie geplant – künftig schneller entlassen will. „Aber das passiert nicht, also will man wohl, dass das Vorhaben scheitert“, erklärt der Sozialarbeiter.

Dass das Ministerium beteuert, den Familien der Entlassenen künftig mit Geld und Rat zur Seite stehen zu wollen, kostet ihn nur ein müdes Lächeln. „Angehörigen, die während der Haft praktisch kaum Chance auf Kontakt zu den Betroffenen haben, nun die Verantwortung umzuhängen, ist einfach nur dreist.“ Wenn man nun Insassen nach Jahren einfach so entlasse, „dann ist die Tragödie vorprogrammiert“.