Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger begrüßt ausdrücklich das Vorhaben der Koalition, die zehn Jahre alte Sicherheitsstrategie, in der Russland als "wesentlicher Partner" gewürdigt wird, komplett zu überarbeiten, übt aber scharfe Kritik an der von ÖVP und Grüne festgehaltenen Einschränkung, dass die Neutralität nicht angetastet wird. "Wir haben seit einem Jahr darauf gepocht, dass die Sicherheitsstrategie überarbeitet wird. Ich halte nichts davon, dass man sich Denkverbote auferlegt und meint: Die Neutralität muss bestehen bleiben, ohne zu sagen, was man darunter versteht."
"Was bringt Österreich die größte Sicherheit?"
Im Gespräch mit der Kleinen Zeitung will sich Meinl-Reisinger nicht festnageln lassen, ob die Neos die Neutralität abschaffen und der Nato beitreten wollen: "Diese Extrempositionen bringen nichts. Wir sollten nicht das Pferd von hinten aufzäumen. Unter Einbindung von Experten und des Parlaments sollten wir die Frage vom Ziel her denken: Was bringt den Österreichern die beste Sicherheit? Wie schützt sich Europa optimal? Man muss darauf achten, dass man bei der Debatte möglichst viele Menschen an Bord hat. Es bringt auch nichts, das Kind mit dem Bade auszuschütten und einfach zu sagen: Weg mit der Neutralität, rein in die Nato."
"Russland ist ein terroristischer Staat"
In jedem Fall müsse das Verhältnis zu Russland neu definiert werden. "Das Ziel muss sein, dass Österreich umfassend geschützt wird – vor alten und neuen Gefahren, etwa Cyberangriffe, Desinformations- und Destabilisierungskampagnen, hinter denen Moskau steht. Russland ist ein terroristischer Staat, der den Westen destabilisieren will. Russland wird auf absehbare Zeit kein verlässlicher Partner sein."
"Die Ukraine war de facto neutral"
Die Neos-Chefin lässt keine Zweifel, dass die Neutralität ein Ablaufdatum besitzt: "Die schmerzhafte Erkenntnis des 24. Februars ist sicherlich, dass die Neutralität nicht schützt. Die Ukraine war de facto neutral und wurde dennoch angegriffen. Finnland wäre nicht der Nato beigetreten, und Schweden hätte das nicht beantragt, wenn sie das Gefühl gehabt hätten, die Neutralität würde sie schützen." Und Österreich? "Wir sind neutral, trotzdem waren unsere Institutionen Opfer russischer Cyberangriffe. Ein verstaubtes, historisch aufgeladenes Neutralitätsverständnis bringt uns keinen Schritt weiter."
"Biden ist ein wahrer Glücksfall"
Europa – so auch Österreich – müsse sich stärker um die eigene Sicherheit kümmern. "Unser Ziel ist ein souveränes, wehrhaftes Europa – mit Österreich als verlässlichem Partner. Es kann uns ein US-Präsident drohen, der sagt: Kümmert euch um eure Angelegenheit. Biden ist ein wahrer Glücksfall." Meinl-Reisinger schwebt mittel- und langfristig eine europäische Sicherheitsarchitektur vor, mit einem europäischen Heer, das eine Säule in der Nato darstellt.
"Auf absehbare Zeit geht es nicht ohne die Nato"
Zum Einwand, dass in Europa niemand an ein europäisches Heer denke, weil alles in Richtung Nato (Finnland, Schweden) geht: "Da widerspreche ich: Realistischerweise wird es auf absehbare Sicht nicht ohne die Nato gehen, die noch dazu gerade gestärkt wird. Mit dem 'Strategischen Kompass', den alle EU-Staaten letztes Jahr beschlossen haben, der die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf neue Beine stellt und unter anderem auch eine europäische Eingreiftruppe von mehreren Tausend Mann vorsieht, geht es in die richtige Richtung."
"FPÖ missbraucht Neutralität für prorussische Agenda"
Meinl-Reisinger spricht der FPÖ das Recht ab, sich als Gralshüter der Neutralität in Szene zu setzen. "Die FPÖ missbraucht die Neutralität als Deckmantel für prorussische Interessen. Die FPÖ sollte das Wort Neutralität gar nicht in den Mund nehmen." Sie verweise auf das Partnerschaftsabkommen mit Putins Bewegung, "auf den Verdacht, dass es womöglich finanzielle Zuwendungen gegeben hat, auf die Tatsache, dass Freiheitliche als Wahlbeobachter in den besetzten Gebieten in der Ukraine tätig waren – so wie sich auch die KPÖ vor Putins Propagandakarren hat spannen lassen".