Vor Beginn der Nationalratssitzung hat sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj heute im Parlament in einer kurzen Videoansprache an Österreich gewandt.
Selenskyj schilderte im Detail russische Gräueltaten in seiner Heimat: Sprengsätze, die unter Plastikbechern versteckt werden, Klaviere in normalen Wohnhäusern, die zu Bomben umgebaut werden – und Zivilisten, die in ihren eigenen Gärten vergraben wurden. Russland führe einen "totalen Krieg gegen unsere Menschen", sagte Selenskyj.
Dank an Graz
Man müsse die "Ukraine von dem russischen Bösen befreien", appellierte der ukrainische Präsident. Er lädt Nationalratspräsident Sobotka und andere Abgeordnete des Parlaments ein, selbst in die Ukraine zu kommen und zu verstehen, was der russische Angriffskrieg anrichtet – und "wie wichtig es ist, moralisch nicht neutral gegenüber dem Bösen zu sein": "Es geht nicht um Geopolitik, es geht darum, dass ein Mensch immer ein Mensch bleiben muss", so Selenskyj.
Der ukrainische Präsident bedankte sich besonders bei der Auslandshilfe "Nachbar in Not", für österreichische Energiehilfe, für die Versorgung Verletzter in Wien, Graz und Linz sowie für Hilfe bei der Entschärfung von Minen. "Ich bin überzeugt, dass wir unsere Menschlichkeit, unsere Moral und unsere Überzeugung, dass das Böse immer verlieren wird, bewahren werden."
FPÖ aus Protest ausgezogen
Als der ukrainische Präsident seine Rede begann, applaudierten die Abgeordneten der FPÖ als einzige nicht. Stattdessen griffen Herbert Kickl und Co. unter ihre Sitzbänke und holen Schilder mit den Sprüchen "Platz für Frieden" oder "Platz für Neutralität" hervor, platzieren sie auf den Bänken – und verließen demonstrativ den Saal.
Die anderen Abgeordneten schenken dem freiheitlichen Protest keine Aufmerksamkeit. Auch in der SPÖ fehlte rund die Hälfte – 22 von 40 – der Abgeordneten während der Rede, darunter Parteichefin (und die außenpolitische Sprecherin des Klubs) Pamela Rendi-Wagner. Sie sei erkältet, so eine Sprecherin.
Selbstverständlich sei Selenskyjs Rede mit der Neutralität vereinbar, sagte der außenpolitische Sprecher der ÖVP, Reinhold Lopatka. Die Ukraine habe sich "mutig und entschlossen" dem Aggressor Russland entgegengestellt - "das verdient Respekt". Die Ukraine führe diesen Abwehrkampf auch für die freie westliche Gesellschaftsordnung. "Schade, dass sie ein solches Verhalten an den Tag legen. Wirklich schade", richtete Lopatka den freiheitlichen Abgeordneten aus. "Wenn man in einem Jahr ausschließlich 30 pro-russische Anträge hier einbringt, ist das weder ein Signal für Frieden noch ein Signal für Neutralität", schloss sich SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried der Kritik an der FPÖ an.
"Ich schäme mich heute sehr", sagte Neos-Klubchefin Beate Meinl-Reisinger, dass es auch im Hohen Haus Abgeordnete gebe, "die nicht unterscheiden können zwischen Opfern und Tätern". Die Ukraine kämpfe gegen "blinde Zerstörungswut", Russland führe nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen Europa und den gesamten Westen.
Umstrittener Auftritt
Es war ein Auftritt, über den seit Beginn des Ukraine-Krieges gestritten wurde. Bereits im vergangenen März schlugen die Neos einen Auftritt des ukrainischen Präsidenten im Parlament vor, doch die FPÖ legte sich damals quer. Eine Einladung stehe im klaren Widerspruch zur Österreichs Neutralität, hieß es. Die SPÖ zeigte sich kurz darauf ebenfalls ablehnend, jedoch mit der Begründung, dass Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) einen solchen Auftritt ohnehin im Alleingang möglich machen könnte.
Dieser zeigte sich zwar bereit, Selenskyj das Wort zu erteilen, nannte jedoch ein Einvernehmen unter den Fraktionen als Bedingung für eine entsprechende Einladung. Das Vorhaben versandete. Im Sommer wurde dann dem ukrainischen Parlamentspräsidenten Ruslan Stefantschuk eine Bühne gewährt, der sich für Österreichs Aufnahme von aus seinem Land Vertriebene bedankte. Die FPÖ blieb als einzige Fraktion der Ansprache fern.
Protokollarischer Kniff
Präsident Selenskyj trat in den Monaten nach Kriegsbeginn in zahlreichen Parlamenten auf, meist digital per Videoansprache. Österreich war – neben Bulgarien und Ungarn – eines der letzten EU-Länder, die dem Staatschef keine entsprechende Bühne geboten hatten. Nun durfte er doch im Hohen Haus sprechen – aber nicht im Zuge einer Nationalratssitzung. Mit einem protokollarischen Kniff hatte Sobotka die Rede vor Beginn der Sitzung angesetzt, womit es sich dabei schlicht um eine "parlamentarische Veranstaltung" handle. Dieses Vorgehen hatte er den anderen Fraktionen in der Präsidiale mitgeteilt.