Sie beschäftigen sich mit einem Phänomen, das in Wien und einigen anderen Städten Europas bereits Realität ist – die einheimische Mehrheitsgesellschaft wird zur Minderheit. Was geschieht hier?
Maurice Crul: Dieses Phänomen ist nicht neu, amerikanische Städte wie New York und Los Angeles sind längst zu Orten geworden, an denen die frühere Mehrheitsgesellschaft zur Minderheit wurde. In Europa ist das noch relativ neu, Amsterdam wurde 2011 als erste große Stadt zu einer "majority minority city", Städte wie Malmö, Rotterdam und Wien folgten. Das ist der demografische Trend der Zukunft.
Sie haben sechs Metropolen untersucht, in denen sich das Herkunftsverhältnis gedreht hat. Wie hat sich das auf das Leben dort ausgewirkt?
Das war unsere zentrale Frage: Was passiert, wenn dieser Punkt überschritten wird? Natürlich ist das nicht von heute auf morgen passiert, die Menschen haben die zunehmende Diversität in Schulen und öffentlichen Verkehrsmitteln über Jahre beobachtet und sich daran gewöhnt. Vielen wird das erst bewusst, wenn sie Familienbesuch bekommen, für den das gar nicht normal ist.
Auch viele Ur-Wienerinnen und Wiener beklagen sich darüber, sich in der eigenen Stadt fremd zu fühlen.
Forscher haben sich jahrzehntelang mit Einwanderern, ihren Kindern und Enkeln beschäftigt. Dass Migration aber auch jene ohne entsprechenden Hintergrund betrifft, wird oft vergessen. In den Befragungen ist uns aufgefallen, dass ein großer Teil der Einwohner dieser Städte die Diversität als Bereicherung sieht. Sie akzeptieren und konsumieren sie in Läden und Lokalen und erleben positive Interaktionen. Doch einem Teil – der in allen untersuchten Städten in der Minderheit ist – macht die Entwicklung große Angst und sie wirkt sich nachhaltig auf ihr Wohlbefinden aus. Sie fühlen sich fremd, unsicher und berichten von deutlich mehr Konflikten.
Die Politik tut sich schwer mit der Ansprache von zwei so gegensätzlichen Wahrnehmungen. Wie gelingt das?
Sowohl Menschen, die migrationsbedingte Vielfalt als Bedrohung sehen, als auch jene, die darin eine Bereicherung sehen, erleben Herausforderungen wie Lärm auf der Straße oder Müll im Stiegenhaus. Sie gehen damit nur anders um. Dass die Politik diese thematisiert, ist für beide wichtig. Aber genau davor haben viele progressive Parteien Angst. Sie wollen keine rechten Erzählungen bedienen. Das halte ich für einen Fehler. Denn nur, wenn ich die Emotionalität des Themas anerkenne, ohne Betroffene als Rassisten abzustempeln, und nur, wenn ich die Probleme klar benenne, kann ich Lösungen finden.
Der Titel des Projektes – "Zur Minderheit werden" – entspricht einem beliebten Narrativ von Populisten. Gibt Ihre Forschung ihnen recht?
Die Idee des Projektes war, dass wir uns nicht der theoretischen Debatte widmen, ob Einheimische zur Minderheit werden. Sondern dass wir uns Städte und Viertel ansehen, in welchen das bereits Realität ist. Und siehe da: Das von den Populisten gezeichnete Weltuntergangsszenario ist nicht eingetreten. Unsere Forschung zeigt aber: Auch, wenn der Großteil der Einheimischen der neuen Diversität positiv gegenübersteht, haben sie kaum privaten Kontakt mit anderen ethnischen Gruppen.
Laut Ihren Studien ist das nirgendwo so eklatant wie in Wien und Hamburg. Warum?
In allen untersuchten Städten gilt: Wer sein Kind in eine gemischte Schule schickt, in internationalen Sportarten wie Fußball aktiv ist oder gut mit seinen ausländischen Nachbarn auskommt, der hat auch einen gemischten Freundes- und Bekanntenkreis. Aber: In Wien passiert das alles deutlich seltener. Das hat vor allem mit der frühen Trennung der Kinder im österreichischen Schulsystem zu tun, denn einen großen Teil der Freundschaften knüpft man dort. Aber auch die Sportaktivitäten scheinen separierter zu sein.
Die Stadt Wien ist stolz auf die Verteilung von Sozialwohnungen auf alle Bezirke zur sozialen Durchmischung. Ist diese gescheitert?
Man bringt Menschen nicht dazu, miteinander zu interagieren, indem man sie einfach gemeinsam in Häusern oder Vierteln leben lässt. Durchmischung geschieht nicht von allein. Die Politik muss sich überlegen, wie man Aktivitäten anbietet, bei denen die Leute in Kontakt kommen. Neben Schule und Sport betrifft das auch die Wohnsituation. Sozialbauten sind oft Hochhäuser, die Anonymität führt kaum zu Kontakt. In kleineren oder unterteilten Wohneinheiten kennen sich die Nachbarn und können Konflikte leichter aus der Welt schaffen.
Stadtplaner sollten das künftig mitbedenken, denn das kann die Einstellung zu Diversität nachhaltig beeinflussen. Befragte in Wien haben sich übrigens von allen Städten am negativsten gegenüber Diversität geäußert.
Obwohl Einwanderung tief in Österreichs Geschichte verwurzelt ist, scheint sich das Land nicht daran zu gewöhnen. Wie erklären Sie sich das?
Der Fokus von Forschung und Debatte lag stets auf den Neuankommenden. Auf die Einheimischen wurde quasi vergessen. Wenn man hier auch von ihnen Engagement erwartet, dann macht das nicht nur das Zusammenleben einfacher, sondern gibt ihnen auch die Möglichkeit, mitzubestimmen, wie dieses aussehen soll. Früher kamen kleinere Gruppen, die man leichter in die Mehrheitsgesellschaft integriert hat. Heute ist das anders und wir sollten das akzeptieren.
Genau davor warnen die Populisten.
Aber das ist die Realität und die Zukunft. Wien wird nie wieder von ausschließlich weißen Österreichern bewohnt sein, sondern noch diverser werden. Populisten halten die Leute mit dieser Illusion aktiv davon ab, sich in der neuen Realität zurechtzufinden und so ein angenehmeres Leben zu führen. Und diese Parteien sitzen in einer Sackgasse. Denn die, für die sie sprechen wollen, werden immer weniger.
Ist das Konzept klassischer Integration obsolet geworden?
Aus meiner Sicht, ja. Dieses Konzept trennt die Menschen eher, als dass es sie zusammenbringt. Wir brauchen einen Zugang, der das Zusammenleben für alle besser macht.
Wie sollen Neuankommende auf ein Leben im Land vorbereitet werden, in dem die Gesellschaft so divers ist? Regeln und Werte schaffen ja auch Orientierung.
Man muss lernen, wie man in einer diversen Metropole arbeiten, leben und sich zurechtfinden kann. Das gilt auch für Einheimische. Wenn ich als Manager nicht weiß, wie ich ein diverses Team leiten kann, werde ich künftig ein Problem haben. Und ein Kind, das die Interaktion mit anderen Kulturen nicht lernt, wird es später schwer haben. Wir müssen hier alle umdenken.
Was bedeuten diese Aussichten für die Demokratie? Ohne Pass kann man an den meisten Wahlen nicht teilnehmen.
In den Niederlanden können alle EU-Bürger, die offiziell in der Stadt wohnen, und Nicht-EU-Bürger, die dort seit mindestens fünf Jahren leben, an lokalen Wahlen teilnehmen und selbst antreten. Das schlägt sich auch in der Wahlbeteiligung nieder. Auf lange Sicht wird es nicht gehen, dass die diverse Mehrheit kein Mitbestimmungsrecht hat, wie die Stadt, in der sie leben, aussehen soll.