Das Internationale Zentrum für Migrationspolitik (ICMPD) erwartet 2023 eine mögliche zweite Welle von Flüchtlingen aus der Ukraine. "Die verschiedenen Szenarien reichen von 500.000 bis 4 Millionen Menschen", heißt es im am Mittwoch veröffentlichten Migrationsausblick der von mehreren europäischen Staaten getragenen und von Ex-Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) geleiteten Wiener Denkfabrik. "Notfallpläne müssen auf eine solch hohe Zahl vorbereitet sein."
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar sind laut dem Bericht 7,9 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Europa geflohen, schreiben die Experten. 4,9 Millionen haben in der EU und anderen europäischen Ländern vorübergehenden Schutz oder ähnliches beantragt.
"Plötzlicher Zustrom"
Die seit Oktober andauernden Angriffe auf die kritische Infrastruktur zerstörten 50 Prozent des Energiesystems und belasteten die ukrainische Gesellschaft immens. Es wird davon ausgegangen, dass 18 Millionen Ukrainer innerhalb des Landes dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. "Die Aufnahmeländer müssen mit Szenarien eines zunehmenden und möglicherweise plötzlichen Zustroms von ukrainischen Flüchtlingen im Jahr 2023 rechnen."
Die ukrainischen Flüchtlinge, die im Vorjahr angekommen sind, werden ab 2023 verstärkt in den Arbeitsmarkt eintreten, prognostiziert ICMPD weiters. Dies erfordere eine gezieltere Unterstützung in den Bereichen Sprachausbildung, Kinderbetreuung, Anerkennung von Qualifikationen und Ausbildung am Arbeitsplatz.
Die Regelung für den schnell und unkompliziert gewährten Schutz für Ukrainer und Ukrainerinnen in den EU-Ländern wurde zwar bis März 2024 verlängert. Die Regierungen sollten sich nach Ansicht von ICMPD aber dennoch schon über die notwendigen Schritte für einen gut vorbereiteten Ausstieg aus dem vorübergehenden Schutz Gedanken machen.
Migranten "als Mittel der hybriden Aggression"
Gleichzeitig warnt ICMPD vor weiteren Versuchen Russlands, Migranten "als Mittel der hybriden Aggression" zu instrumentalisieren. Die Agentur verweist auf die entsprechende Ankündigung der russischen Regierung von Flügen aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach Kaliningrad. Die russische Exklave, die u.a. an Polen grenzt, könne "leicht als Sprungbrett für irreguläre Bewegungen in Richtung EU dienen". Die EU-Staaten sollten daher den 2021 in die Wege geleiteten Entwurf der EU-Instrumentalisierungsverordnung überarbeiten und sich einigen, meint ICMPD.
2023 biete außerdem "die letzte Gelegenheit", vor den nächsten Europawahlen im Jahr 2024 einen Pakt für Migration und Asyl in der EU abzuschließen, heißt es in dem Bericht weiter. Auch wenn der Vorschlag der EU-Kommission für ein gemeinsames europäisches Migrations- und Asylsystem vom September 2020 umstritten ist, sollten 2023 die Arbeiten finalisiert oder zumindest einige seiner Legislativvorschläge vereinbart werden, rät ICMPD. Hoffnungen werden in den EU-Sondergipfel vom Februar gelegt, also ob dieser einen endgültigen Durchbruch bringen wird.
ICMPD verweist allgemein darauf, dass 2023 die Überprüfung der bestehenden Visaregelungen "ganz oben auf der Tagesordnung" stehe. Abgesehen von Asylantragstellern aus kriegs- und konfliktgebeutelten Ländern kamen 2022 nämlich auch Menschen mit Nationalitäten mit sehr geringen Aussichten auf eine positive Entscheidung über ihre Anträge "in den Genuss einer visumfreien oder erleichterten Einreise in die EU-Mitgliedstaaten oder Nachbarländer". In diesem Zusammenhang wird Serbien erwähnt, dass die Visafreiheit für Inder und Tunesier 2022 aufgehoben hat.
Frage der Ernährungssicherheit
Steigende Lebenshaltungskosten oder die Ernährungsunsicherheit spielen weiterhin eine Rolle. Ein Faktor für die Kontrolle irregulärer Migrationsströme werde 2023 daher auch die Unterstützung der Länder des globalen Nordens für die von den höheren Lebensmittelpreisen am stärksten betroffenen Länder. Möglichkeiten seien, die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln und den Agrarsektor widerstandsfähiger zu machen.
2023 könnte darüber hinaus eine Entwicklung in Sachen legaler Migration zeigen. Denn aufgrund des wachsenden Bedarfs an Arbeitskräften haben europäische Regierungen ihre Bemühungen verstärkt, in Herkunftsländern aktiv Arbeitskräfte anzuwerben. Umfassende Migrations- und Mobilitätspartnerschaften wurden abgeschlossen. Österreich hat etwa eine solche mit Indien vereinbart. "2023 wird es interessant sein zu sehen, wie sehr die Zahl solcher Vereinbarungen zunehmen wird und wie schnell sie in die praktische Umsetzung gehen werden", hieß es.