"Der ORF steht ab 2024 vor einer der größten Finanzierungskrisen in seiner Geschichte", warnte ORF-Generaldirektor Roland Weißmann im November seinen Stiftungsrat. Weißmann fordert daher eine gesetzliche Neuregelung der Finanzierung bis Ende März 2023. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ORF ist schon jetzt Sparen angesagt. Die Gehaltserhöhungen für die nächsten beiden Jahre fielen entsprechend niedrig aus. Doch manche stellen das Unternehmen bereits seit Jahren über ihre eigenen Rechte und hanteln sich von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten.
Denn der Erfolg von Österreichs größtem Medienunternehmen ist auch auf eine gesetzliche Ausnahme gebaut: Laut ORF-Gesetz darf das Unternehmen unendlich oft befristete Arbeitsverträge direkt aufeinander folgend vergeben. Sogenannte "Kettenverträge" dürfen sonst nur Universitäten, Theater und der Bund nützen. Alle anderen Unternehmen müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unbefristet anstellen, wenn sie länger in derselben Funktion tätig sind.
Von Beitrag zu Beitrag angestellt
Das hat gute Gründe: "Kettenbefristungen sind verpönt, weil sie dazu führen, dass man niemals in einen Kündigungsschutz kommt", erklärt die Arbeitsrechtlerin Sieglinde Gahleitner, denn: "Wenn eine Befristung ausläuft, kann der Dienstnehmer nichts dagegen tun, es sei denn, die Beendigung erfolgte wegen einer Diskriminierung nach dem Gleichbehandlungsgesetz." Da das ORF-Gesetz aber ständige Kettenverträge erlaubt, haben sie im ORF System.
Aus freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die einzelne Sendungen oder Beiträge produzieren, werden feste Mitglieder in den Redaktionen des ORF. Dank der rechtlichen Sonderstellung des ORF werden sie aber oft nur so lange angestellt, bis ihr nächster Beitrag erscheint. Die ehemalige Ö1-Journalistin Jana Wiese hat sich zu Jahresbeginn daher vom Unternehmen getrennt: "Ich bin es leid, für ein Unternehmen zu arbeiten, das junge, engagierte Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse drängt und ihnen jahrelang die Karotte einer 'echten' Anstellung vor die Nase hält, die für die meisten aber doch nie Realität wird", begründet sie am Dienstag den Schritt auf ihrem Blog.
Die Kleine Zeitung bekam Einsicht in Arbeitsverträge, die teils nur einzelne Stunden für die Produktion eines Beitrags abdecken – und über Jahre hinweg immer und immer wieder abgeschlossen wurden. "In mehr als vier Jahren bei Ö1 war ich kein einziges Mal länger als 32 Stunden am Stück beschäftigt", schreibt Wiese. Einzige Ausnahme: ein einmonatiges Praktikum.
Die Mitarbeiter gelangen nie in die Sicherheit einer dauerhaften Anstellung, im Gegenteil: Wenn nicht alle zwei Wochen ein Beitrag erscheint, fallen die so befristet Angestellten, die irreführenderweise als "Freie" bezeichnet werden, aus der Sozialversicherung. Wie viele seiner Beschäftigten nur befristete Verträge haben, wollte das gebührenfinanzierte Unternehmen auf Anfrage nicht beantworten.
Viel Arbeit, wenig Geld, dauerhafte Unsicherheit
Das Problem ist nicht neu, im Gegenteil: Manche Gesichter und Stimmen, die ORF-Hörerinnen und Seher seit Jahrzehnten kennen, wurden vom Unternehmen nie richtig angestellt. Aber besonders junge Journalistinnen und Journalisten haben kaum eine Chance auf eine echte Anstellung. Wenige Tage vor der Wahl des neuen ORF-Generaldirektors im August 2021 wandten sich daher mehr als 40 junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ORF an die Geschäftsführung. Ihr Arbeitsalltag sei geprägt von Unsicherheit, struktureller Benachteiligung und Perspektivenlosigkeit, kritisierten sie in einem Brief. Neben dem damaligen ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz versprach auch sein Nachfolger Weißmann, die Anliegen seiner jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst zu nehmen.
Verändert hat sich seitdem an der prekären Situation nichts, erzählen der Kleinen Zeitung mehrere aktive und ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ORF. Aus Angst vor beruflichen Nachteilen wollen sie nicht namentlich genannt werden, ihre Berichte gleichen sich aber: Sie alle arbeiten gerne für den ORF, litten oder leiden aber unter den Bedingungen. "Das Gemeine ist, dass der ORF seine Marktmacht ausnutzt", erzählte eine ehemalige Mitarbeiterin. Viel Arbeit, wenig Geld, kaum Aussicht auf eine Anstellung, aber dauerhafte Unsicherheit, sind offenbar die Folge.
Unversichert beim Arzt
Hinzu kommt, dass Kettenverträge laut ORF-Gesetz nur im Ausmaß einer Teilzeit-Beschäftigung erlaubt sind. Wer für jeden einzelnen Beitrag angestellt wird, müsse "wie ein Haftlmacher aufpassen, dass man nicht von der Versicherung abgemeldet wird", erzählt eine ORF-Mitarbeiterin. Mitunter wird das erst beim Stecken der E-Card bekannt: "Ich bin zum Beispiel zweimal ohne funktionierende E-Card dagestanden und musste auf das Wohlwollen von Ärzt:innen hoffen", schreibt Wiese, und: "Die entsprechenden Sozialabgaben wurden mir am Monatsende natürlich trotzdem vom Gehalt abgezogen."
Gerade junge Journalistinnen und Journalisten bleiben daher häufig neben ihrer Arbeit für den ORF bei den Eltern mitversichert. Damit auch andere durchgehend versichert sind, dürften teils falsche Stunden geschrieben werden. Das zeigt der Vergleich von Stundenaufzeichnungen und ausgestellten Arbeitsverträgen, in die die Kleine Zeitung Einsicht erhielt.
Wer ausfällt, fällt um Einkommen um
Vor allem wird zu viel gearbeitet. Denn der ORF lässt seine befristeten Angestellten nicht selbst Stunden schreiben, sondern zahlt nach seinem Honorarkatalog. Mögliche Überstunden sind darin pauschal abgegolten. Im Journalismus ist das durchaus üblich, wie auch das Unternehmen betont. Die Stunden, die das Unternehmen für einzelne Beiträge berechnet, dürften aber bewusst knapp angesetzt sein, erzählt eine andere ehemalige Mitarbeiterin: "In Wirklichkeit habe ich immer mehr gearbeitet als vorgesehen."
Zusätzlich habe sie in ihren Jahren beim ORF-Radio etwa an Redaktionssitzungen teilnehmen müssen. Es gebe einen "implizierten Druck", denn "nur wer in die Sitzung geht, kriegt einen Beitrag". Und nur mit Beitrag gibt es einen Arbeitsvertrag, Gehalt und Versicherung. "Unfall, längere Krankheit oder Schwangerschaft können so zu einer existenziellen Bedrohung werden, oder zumindest zu einer anstrengenden Bürokratie-Schlacht", schreibt Wiese in ihrem Blog.
ORF: Kein strukturelles Problem bekannt
Auch werden bei befristeten Arbeitsverträgen Nacht-, Wochenend- oder Feiertagszulagen pauschal abgegolten. Die "Teilzeit"-Kräfte müssten diese Dienste daher besonders oft übernehmen, wird kritisiert: Es sei für den ORF billiger, eine Person für einen Sonntag anzustellen, als einem dauerhaft Angestellten Überstunden zu zahlen. Der ORF gibt dazu auf Anfrage dazu keine detaillierte Auskunft, verweist aber darauf, dass der Honorarkatalog auf kollektivrechtlicher Ebene festgesetzt wurde – also mit Einbindung der Belegschaft.
Man versuche, auf Sorgen und Beschwerden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einzugehen und eine gute Lösung zu erreichen, heißt es aus dem Unternehmen: "Dies konnten wir in einer Vielzahl der Fälle seit Sommer 2021 auch umsetzen." Dem ORF würden auch keine konkreten Beschwerden vorliegen, die einen "Rückschluss auf ein strukturelles Problem" zulassen würden.
Allgemein sehe die österreichische Rechtsordnung "eine Vielzahl unterschiedlicher Beschäftigungsformen vor, derer sich auch der ORF nach den Grundsätzen der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit bedient. Dies erfolgt zumeist nicht nur aus Gründen der Wahrung einer gewissen Flexibilität, sondern ist oft auch erforderlich (beispielsweise die Beschäftigung von Vertretungen für die Dauer von Abwesenheiten von Mitarbeiterinnen infolge Karenzen, Elternteilzeiten etc., Projektanstellungen) oder es liegen programmliche Erwägungen zugrunde."
Regelung könnte gegen EU-Recht verstoßen
Aus Sicht der Arbeitsrechtlerin Gahleitner verstößt der ORF allerdings gegen EU-Recht: "Es gibt keinen sachlichen Grund, warum der ORF ohne jede zeitliche Begrenzung über Jahrzehnte hinweg befristete Verträge aneinanderreihen können soll." Die Sonderregelung verstoße gegen die Befristungsrichtlinie und stelle darüber hinaus eine Diskriminierung von Teilzeit-Beschäftigten dar, da nur Beschäftigte, die nicht mehr als 4/5 der Normalarbeitszeit arbeiten, unter diese Regelung fallen.
Die Juristin stützt sich dabei sowohl auf Entscheidungen des EuGH in ähnlichen Konstellationen als auch auf ihre Erfahrungen, die sie durch die Vertretung von Mitarbeiter:innen des ORF sammeln konnte: "Der ORF schließt oft Vergleiche, wenn es um solche Sachen geht", erzählt sie. Das müsse das Unternehmen ihrer Meinung nach tun, um eine Klärung durch den Europäischen Gerichtshof (EUGH) zu verhindern, denn, so Gahleitner: "Das ist eine Regelung, die meiner Meinung nach nicht halten würde, wenn man sie vor den EUGH bringt." Einigt sich der ORF aber außergerichtlich und stellt die Klägerin oder den Kläger doch an, kann das Verfahren nicht bis zum EUGH geführt werden.
Viele trauen sich aber nicht, vor Gericht zu ziehen: "Der ORF hat in Österreich eine Monopolstellung und wer als Journalist Karriere machen möchte, weiß, dass eine Klage gegen den ORF große Nachteile auf einem überschaubaren Markt für ihn haben kann", sagt Gahleitner. Jana Wiese hofft hingegen, dass sich durch ihren Schritt an die Öffentlichkeit auch die Situation ihrer früheren Kolleginnen und Kollegen bei Ö1 bessert, denn: "unter so prekären Bedingungen sollte niemand arbeiten".
Maximilian Miller