Sie haben in Ihrer Rede bei der Wiedereröffnung des Parlaments am Donnerstag von einer Krise der Rechtsstaatlichkeit gesprochen. Wie groß ist die Sorge, dass die Demokratie in Gefahr gerät?
WOLFGANG SCHÄUBLE: Ja, das ist meine größte Sorge. Nehmen wir Donald Trump. Er ist nicht die Ursache, sondern die Spitze des Eisbergs. Viele, die Amerika beobachten, sagen, es sei ein anderes Land geworden. Die Spaltung der USA ist grauenvoll. Oder schauen Sie auf Bolsonaro in Brasilien. In Österreich und Deutschland geht es noch, aber schauen Sie sich Frankreich an: Die klassischen Parteien sind pulverisiert. Demokratie ist nicht voraussetzungslos, sie ist eine Zumutung. Demokratie ist kein Supermarkt, wo man sich als Schnäppchenjäger bedient. Das setzt voraus, dass man etwas hat, was die Gemeinschaft trägt. Das kann man Identität nennen. Ohne Zusammenhalt funktioniert Demokratie nicht.
Woran liegt es, dass der Zusammenhalt nicht mehr funktioniert?
SCHÄUBLE: Es gibt ja keinen gemeinsamen Kommunikationsraum mehr. Die sogenannten Medien und die Echoblasen, die daraus entstehen, die spalten.
WOLFGANG SOBOTKA: Wir stehen vor der Herausforderung, dass sich die nächste Generation die Demokratie quasi wieder mehr aneignen muss. Ohne Lernprozess wird es nicht funktionieren. Da setze ich sehr stark auf unsere Demokratiewerkstatt im Parlament. Gut gebildete Jugendliche wägen mehr ab und sind nicht so empfänglich für populistische Strömungen. Wir dürfen uns nicht darauf zurückziehen, dass die Demokratie nur in den Parlamenten oder den Abgeordnetenzimmern stattfindet. Das muss sich durch die gesamte Gesellschaft ziehen.
Welche Verantwortungen tragen die Regierenden? Hat es nicht auch mit der Krise der Nationalstaaten zu tun, die Dinge versprechen, die national nicht umsetzbar sind?
SCHÄUBLE: Wir reden von multiplen Krisen. Das sind Krisen, die sich gegenseitig beeinflussen. Die Globalisierung hat mit der Klimakrise zu tun, aber auch mit dem Ukraine-Krieg. Ich kann zu Österreich nichts sagen, aber in Deutschland sind wir zu sehr in Versuchung, jedem recht zu geben. Das geht nicht. Demokratie braucht Führung.
Ist nicht das Gegenteil der Fall? Wir erleben aktuell sehr viel Konfrontation: Coronaleugner, Klimaaktivisten, die sich an die Straße kleben.
SCHÄUBLE: Wenn man den Leuten sagt, wo es langgeht, dann funktioniert es auch. Franz Josef Strauß hat einmal gesagt: "Everybody’s Darling is everybodys Ochs." Es liegt aktuell auch an den Regierungen. Aber Konfrontation allein nützt gar nichts. Unser Kanzler versucht den schmalen Grat zu gehen, die Ukraine nach besten Kräften zu unterstützen, ohne ein zu großes Eskalationsrisiko einzugehen. Putin hat das Thema Atomwaffen enttabuisiert. Da haben selbst die Chinesen gesagt, man droht nicht mit Atomwaffen. Das sollte man anerkennen.
SOBOTKA: Die Welt ist sehr komplex geworden. Nicht wenige Menschen fühlen sich überfordert und suchen nach einfachen Antworten. Was mir in der Politik zunehmend abgeht, ist das Gemeinsame. Man kann in der Sache durchaus anderer Meinung sein, entscheidend ist für mich, dass man bei seiner Haltung bleibt und respektvoll miteinander umgeht.
Das Gemeinsame ist oft nur schwer in Europa zu erzielen. Wie beurteilen Sie die Performance der Kommissionspräsidentin, Ihrer Landsfrau und Parteikollegin Van der Leyen?
SCHÄUBLE: Ich vergebe keine Noten an Politiker. Das Problem in Europa ist, wir brauchen in bestimmten Bereichen ein handlungsfähiges Europa. Da müssen dann die Mitgliedsländer bereit sein, Kompetenzen an Brüssel abzugeben. Beispiel Verteidigung: Nichts gegen österreichische Besonderheiten, aber das funktioniert nicht. Es geht nur gemeinsam. Komplementär zur Nato muss es eine europäische Lösung geben. Die Länder, die das wollen, müssen vorangehen. Polen, Deutschland und Frankreich. Polen hat die mit Abstand größte konventionelle Armee. Die Deutschen haben ihre Wirtschaftskraft, die Franzosen die atomare Komponente. Das müssen wir verstärkt gemeinsam nutzen – und eben auch gemeinsam finanzieren, im Rahmen der wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse.
Was soll Österreichs Rolle bei der Verteidigung sein?
SCHÄUBLE: Man muss jedes Land aus seiner eigenen Geschichte und Tradition verstehen. Ich bin alt genug, um Österreichs Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg zu kennen. Dazu gehört die immerwährende Neutralität ... das wird schon werden, da muss man nicht drängen. Österreich nimmt seine Verantwortungen wahr. In der Migration ist das genauso, da brauchen wir eine europäische Lösung. Wenn man das den Menschen glaubhaft vermittelt, dass es möglich ist, dann wächst wieder die Zustimmung zu Europa.
Die Migration ist aktuell ein zentrales Problem für die EU ...
SCHÄUBLE: Ich war Innenminister, als Dublin eingeführt wurde. Erst muss man machen, was geht. Die Menschen wollen jetzt Lösungen. Die Möglichkeiten der Kommission sind begrenzt. Deshalb brauchen wir eine Koalition der Willigen. Außenpolitik fängt damit an, dass man sich selber einmal mit den Augen des anderen betrachtet.
Das Verteilen funktioniert nicht.
SCHÄUBLE: Man braucht ein gemeinsames Leistungsniveau für Soziales. Sonst gehen die Leute dorthin, wo es das beste Sozialsystem gibt.
Also nach Österreich und Deutschland. Ungarn hatte 2022 rund 50 Asylanträge, Österreich 100.000 ...
SCHÄUBLE: Na, warum soll man nach Ungarn gehen? Wenn sich die anderen nicht solidarisch verhalten, kann es aber nicht sein, dass wir sagen, wir verhalten uns auch nicht solidarisch. Wichtiger ist auch hier übrigens Polen.
SOBOTKA: Wir sollten nicht immer mit dem Finger auf andere zeigen. Das Problem ist, dass in Ungarn nicht registriert wird. Die Leute gehen dorthin, wo es bessere Sozialsysteme gibt. Die EU ist gefordert, hier einen rigorosen Außengrenzschutz und kontrollierte Zuwanderung zu etablieren. Unser Problem ist, dass das Dublin-Übereinkommen nicht funktioniert.
Wie kommentieren Sie Österreichs Schengen-Veto?
SCHÄUBLE. Man muss immer die Position des Landes verstehen. Wir müssen auch die anderen respektieren. Das war immer mein Credo. Und natürlich müssen wir den Westbalkan stabilisieren.
Gibt es eine Chance, den Krieg in der Ukraine zu beenden?
SCHÄUBLE. Maßgeblich ist Joe Biden. Er geht gut mit der Situation um. Natürlich hängt auch viel von der Ukraine ab. Putin hofft auf Ermüdung. In der Ukraine und bei uns. Zudem haben die Amerikaner ihm deutlich gemacht, dass die Reaktion auf eine atomare Eskalation für seine konventionellen Streitkräfte verheerend wäre. Das fand ich klug.
Das Interview wurde gemeinsam mit der "Kronen Zeitung", dem "Kurier" und den "Salzburger Nachrichten" geführt.