In genau einem Monat wählt Österreichs größtes Bundesland einen neuen Landtag. Dabei geht es am 29. Jänner im schwarzen Kernland Niederösterreich für die Volkspartei um weit mehr als den Verlust der absoluten Mehrheit im Landhaus: "Fällt sie unter 40 Prozent, ist Feuer am Dach - auch in der Bundespartei", sagt etwa der Leiter des Meinungsforschungsinstituts OGM, Wolfgang Bachmayer.
Denn dann könnte die ÖVP auch die Mehrheit in der Landesregierung verlieren. Für die Volkspartei ist Niederösterreich aber das mit Abstand wichtigste Bundesland - und die schwarze Landeschefin Johanna Mikl-Leitner klar die einflussreichste Frau in der ÖVP. Das änderte sich auch mit dem Abgang von Ex-Kanzler Sebastian Kurz, der unter Innenministerin Mikl-Leitner Integrationsstaatssekretär war, nicht.
Schwarze Machtzentrale Niederösterreich
Im Gegenteil: Unter Bundeskanzler Karl Nehammer, der seine Masterarbeit über den Landtagswahlkampf der Niederösterreichischen Volkspartei 2013 geschrieben hat, besetzen Niederösterreicher nahezu jede wichtige Position in der Partei. Mit Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) hat Mikl-Leitner ihren langjährigen Landesgeschäftsführer in der Regierung geholt, mit Alexander Pröll führt der Großneffe ihres Vorgängers Erwin Pröll die Geschäfte der Bundespartei. Kein Wunder, dass die FPÖ über den fehlenden "Sanctus aus St. Pölten" witzelt, wenn Entscheidungen im Bund auf sich warten lassen.
Verliert die Volkspartei in Niederösterreich also das Gesicht, ist die Partei auch im Bund mehr als angezählt. Für ein Desaster sprechen manche Umfragen: Die knappe absolute Mehrheit von 49,6 Prozent (und somit 29 der 56 Mandate), die Mikl-Leitner 2018 erringen konnte, dürfte nicht mehr haltbar sein. Bei ihrer ersten Wahl als Landes-Chefin hatte Mikl-Leitner durch den einstigen Höhenflug des damaligen Kanzlers Kurz deutlichen Rückenwind aus dem Bund.
Mikl-Leitner gegen den Abwärtstrend
Diesmal kämpft die Volkspartei allerdings gegen einen Abwärtstrend an, wie sie bereits bei der Landtagswahl in Tirol eingestehen musste. Seit den Hausdurchsuchungen im Rahmen der Umfragen-Affäre und dem Rückzug von Kurz befindet sich die ÖVP im Fall. Die Tiroler Volkspartei konnte das historisch schlechteste Ergebnis nur deshalb als Erfolg einordnen, weil die Umfragen noch schlechter waren. Tatsächlich ist die geopolitische Gesamtlage zwischen Corona, Krieg und Teuerung für Amtsinhaber denkbar schlecht.
Wohl noch schwerer wiegen aber hausgemachte Probleme der ÖVP: Chats auf dem Handy von Mikl-Leitners früherem Kabinettschef im Innenministerium, Michael Kloibmüller, in denen sich auch die nunmehrige Landeshauptfrau im Ton vergriff ("Rote bleiben Gsindl! Schönen Schitag!"), Korruptionsermittlungen gegen Ex-Minister wie den früheren niederösterreichischen Wohnbaulandesrat und nunmehrigen Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka (ÖVP) oder die Nachprüfungen der Parteifinanzen durch den Rechnungshof sorgten das ganze Jahr über für stetige Dämpfer. Dazu komme nun die Affäre um den Landesdirektor des ORF Niederösterreich, die den Wahlkampf der Volkspartei "nicht gerade beflügelt", erinnert Meinungsforscher Peter Hajek.
"Alle gegen Johanna Mikl-Leitner"
Die Partei werde aber "Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um einen Wahlerfolg einzufahren. Und ein Wahlerfolg ist alles über 40 Prozent", ist sich Hajek sicher. Dass der "Komplettabsturz" vermieden werden könne, sei der ÖVP aufgrund ihres hohen Organisationsgrades, des erprobten Wahlkampfteams und des jahrelangen Machtmonopols zuzutrauen. "Neben der Wiener SPÖ ist die ÖVP Niederösterreich die bestorganisierte Landespartei in Österreich", sagt auch der Politikberater Thomas Hofer. Um den kompletten Absturz zu verhindern, müsse die Partei auf Mobilisierung setzen, erklärt OGM-Chef Bachmayer.
Genau das tut die Volkspartei: "Das Match lautet alle gegen uns. Alle gegen die Volkspartei Niederösterreich. Alle gegen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner", erklärte Landesgeschäftsführer Bernhard Ebner bei der Präsentation der Landesliste für die Landtagswahl den Abwehrkampf für eröffnet. Im Wahlkampf "gegen" Mikl-Leitner seien den anderen Parteien "alle Mittel recht: anonyme Anzeigen, Anschuldigungen, U-Ausschuss-Ladungen, Angriffe auf den Landesrechnungshof oder den ORF NÖ", kritisierte der Landesgeschäftsführer.
FPÖ im Asyl-Aufwind
Tatsächlich haben sich SPÖ, FPÖ, Grüne und Neos allesamt das Ziel gesetzt, die absolute Mehrheit im Landtag zu brechen. Noch gefährlicher wäre für die ÖVP aber, auch in der Regierung zu verlieren. Denn in Niederösterreich herrscht ein Proporzsystem: Ab einer gewissen Größe entsenden Parteien unabhängig von Koalitionen Mitglieder in die Regierung. Bisher stellte die ÖVP sechs der neun Regierungsmitglieder und konnte somit SPÖ und FPÖ stets überstimmen. Gewinnen die anderen Parteien genügend Stimmen, könnte sich in der Regierung sogar eine Koalition gegen Mikl-Leitner bilden. Was die SPÖ ihren Wählern als einmalige Chance verkauft, nutzt die ÖVP als Schreckgespenst zur Mobilisierung.
Dabei zeichnet sich eine Ablöse Mikl-Leitners nicht wirklich ab. Die SPÖ unter der Führung von Franz Schnabl tritt in Umfragen auf der Stelle. Sie könnte Ende Jänner sogar den zweiten Platz an die FPÖ verlieren, die von den - auch von der Volkspartei wieder lauter gespielten - Themen Migration und Asyl profitiert. Auch die starke Teuerung und allgemeine Unzufriedenheit würden dem blauen Parteichef Udo Landbauer in die Hände spielen, erklärte der Politikberater Hofer, denn: "Wo die Menschen unzufrieden sind, profitiert meistens die FPÖ." Dass sich die Impfgegner-Partei MFG mittlerweile de facto aufgelöst hat und Landbauers Liederbuch-Affäre in Vergessenheit geriet, hilft zusätzlich. Grüne und Neos dürften hingegen zulegen - allerdings auf traditionell niedrigem Niveau. MFG, KPÖ und die Liste ZIEL treten nur in einigen Wahlkreisen an.
Johanna, die Versöhnliche
Als Gegenkonzept ist Mikl-Leitner bemüht, das schöne, schwarz regierte Niederösterreich hervorzukehren. Während die anderen Parteien wahrscheinlich den "tiefsten und anonymsten Wahlkampf" führen würden, gelte für die ÖVP: "Für uns soll es der schönste, persönlichste und fairste Wahlkampf sein", erklärte die schwarze Landeschefin bei der Präsentation der Landesliste am Dienstag. Die Zusammenarbeit habe in den letzten vier Jahren gut funktioniert, ihr Ziel sei, "dass wir dieses Miteinander sofort wieder weiterleben nach dem 29. Jänner".
Der Plan, den eigenen Wählern das heile Niederösterreich zu präsentieren, wird schon länger verfolgt. Im Sommer preschte Mikl-Leitner etwa mit einem niederösterreichischen Strompreisrabatt vor, der trotz der Strompreisbremse des Bundes intakt bleibt. Kritik möglicher Überförderung nannte die Landeshauptfrau mit Verweis auf die hohen Lebenserhaltungskosten eine "Debatte im Elfenbeinturm".
Wenn die Parteimitglieder Flagge zeigen
Überhaupt gilt Stolz statt Selbstkritik: Bereits am Landesfeiertag am 15. November erhielt jeder Haushalt, in dem mindestens ein ÖVP-Mitglied wohnt, eine niederösterreichische Landesflagge. Fast jeder fünfte Haushalt sollte somit "Flagge zeigen" können, erklärte die Landespartei. Stimmen diese Angaben, dürfte die Volkspartei nicht allzu tief fallen können, wie der Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik nachrechnete: Rund 15 Prozent der Wahlberechtigten in Niederösterreich wären demnach ÖVP-Mitglieder.
Zumindest 90.000 Wahlberechtigte sind durch eine Wahlrechtsreform allerdings verloren gegangen: Mit 1. Juni verloren Zweitwohnsitzer das Wahlrecht in Niederösterreich. Auch das sind Stimmen, die vor allem der ÖVP fehlen werden: 2018 stimmten 72 Prozent der Zweitwohnsitzer für die Volkspartei - insgesamt erreichte die ÖVP 49,6 Prozent der Stimmen. Eine weitere Besonderheit bleibt Niederösterreich aber erhalten: Bei der Landtagswahl gilt "Name vor Partei" - eine gültige Vorzugsstimme schlägt die allenfalls anders lautende Stimme für eine Partei. Daher tritt etwa die ÖVP als "LH Johanna Mikl-Leitner VP Niederösterreich" an.
Maximilian Miller