Wenn man den Beteuerungen der Regierung Glauben schenkt, hat kein anderes Land in Europa so viel Geld in die Hand genommen wie Österreich. Gleichzeitig besitzt die Regierung wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Was sind die Gründe dafür?
WERNER KOGLER: Die Maßnahmen sind riesig, das ist zutreffend. Viele zielen darauf ab, dass das untere Drittel der Einkommensbezieher gut durch die Krise kommt. Dazu kommt die Vertrauenskrise, die es wirklich gibt. Das ist schlecht, denn Vertrauen ist die wichtigste Währung. Wir beobachten das Phänomen auch in anderen EU-Ländern, das betrifft alle Institutionen, nicht nur politische Parteien. Interessant ist auch, dass die Opposition keinen Vertrauenszuspruch erhält. Auch die Medien stehen nicht gut da.
Was sind die Gründe?
In Kriegs- und Krisenzeiten ist die Lage eine schwierigere. Da gibt es sehr viel Unsicherheit, das befeuert das. Das Zweite ist, dass in einer Krise, in der Tausende Entscheidungen getroffen werden, auch Fehler passieren. Damit muss man offener umgehen. Und drittens: Wichtig wäre, dass alle Entscheidungsträger – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft, Wirtschaft, den Medien – anders miteinander umgehen. In Kriegs- und Krisenzeiten verbindet uns viel mehr, als uns trennt. Ich halte die Vertrauenskrise für dramatisch, nicht bezogen auf Parteien, sondern weil sie für die Demokratie gefährlich wird. Deshalb plädiere ich für eine konstruktive Auseinandersetzung, wo man Argumenten zuhört.
Spielen Sie dabei auf die Opposition? Sie waren ja selbst ein scharfzüngiger Oppositionspolitiker.
Ja, ich war lange auch Oppositionspolitiker, aber als wir die Bankenskandale aufgedeckt haben, waren immer zwei Dinge dabei. Oft lautete der erste Satz in meiner Parlamentsrede: "Es funktioniert auch viel." Das wurde vielleicht nicht immer, aber oft genug gesagt. Zweitens haben wir immer auch mitgearbeitet, wenn es darum ging, Milliarden für den Steuerzahler zurückzuholen. Oft war eine Zweidrittelmehrheit nötig, es gab da kaum taktische Tanzereien.
Hat die Vertrauenskrise nicht auch damit zu tun, dass die Politik oft überzogene Erwartungen weckt? Auf nationaler Ebene ist der Entscheidungsspielraum begrenzt.
Es gibt viele Bereiche, wo eine Regierung national etwas bewirken kann. Wir haben beim Parteientransparenzgesetz den Rechnungshof in die Lage versetzt, dass er die Parteikassen umdrehen kann. Das ist mega. Oft ist Deutschland das große Vorbild-Land, aber das findet sich nicht einmal dort.
Nicht überall kann die Regierung so souverän agieren?
In der Ökonomie sind die nationalen Handlungsspielräume begrenzt. Wenn es darum geht, die heimische Industrie noch ökologischer zu gestalten, geben wir Grüne den Takt vor. Da passiert ohnehin schon sehr viel, wir wollen bei der Transformation noch schneller sein. Da stößt man bisweilen an Grenzen, denn die Industrie muss international auch wettbewerbsfähig sein. Man könnte noch schärfere Vorgaben machen, ich will aber nicht, dass die Industrie, dass die Voest zusperrt. Was das für die Obersteiermark heißt, wissen wir. Die ökologische Wende muss mit der Industrie passieren, nicht gegen sie, mit der Natur und der Industrie. Insofern kann nicht jedes Gesetz das schärfste der Welt sein, denn sonst schaffen wir uns im ökonomischen Bereich selbst ab.
Es ist viel von der Abschaffung des Amtsgeheimnisses und einem Informationsfreiheitsgesetzt die Rede, das beseitig werden soll. Wie weit ist das?
Beim Informationsfreiheitsgesetz sind Verfassungsministerin Edtstadler und ich uns einig. Es sind Länder und Gemeinden, die auf der Bremse stehen. Man muss es so deutlich sagen. Man kann ja über die Bedenken debattieren, die sind ja vielleicht berechtigt. Es kann aber nicht sein, dass etwa die Landtagspräsidenten – sie haben es selbst öffentlich gemacht – rabiat dagegen sind, weil sie sagen, sie seien schon transparent genug. Dann werden sie das darstellen müssen und erklären warum es in jedem Bundesland anders ist.
Was hat der Bürger davon?
Es müssen etwa Studien, die in Auftrag gegeben worden sind, veröffentlicht werden. Als ich in das Ressort hineingekommen bin und erfahren habe, dass vor meiner Zeit Studien vergeben worden sind, habe ich sie sofort öffentlich gemacht. Mit der Abschaffung des Amtsgeheimnisses und der Informationsfreiheit wäre das von Anfang an automatisch so und zwar nicht nur im Bund, sondern eben auch in den Ländern und Gemeinden. Außerdem gibt es die Einzelauskunftsmöglichkeiten, da kann die Bürgerin Informationen erfahren, die den Bereich der Verwaltung betreffen – etwa welche Projekte ein Bundesland fördert oder welche Studien beauftragt wurden. Bis dahin können Ministerien oder Landesverwaltungen natürlich Dinge freiwillig veröffentlichen. Wir tun das – mit der Infofreiheit würde das zur Norm.
Kann ein Bürger alle Unterlagen zu einer Regierungssitzung, egal, ob Bund, Länder, Gemeinden, erfragen?
Das ist Gegenstand der Verhandlungen. Klar ist aber: Das müssen abgeschlossene Verwaltungsvorgänge sein, genauso wie der Rechnungshof auch nur abgeschlossene Vorgänge prüft und nicht mittendrinnen. Man kann ja nur das erfragen, was wirklich manifest ist. Es kann ja nicht eruiert werden, was der Beamte X mit dem Beamten Y in der Teeküche besprochen hat. Es müssen abgeschlossene Verfahren sein.
Wie groß ist die Leidensfähigkeit der Grünen bei Asyl?
Natürlich haben wir unterschiedliche Zugänge in dem Bereich, das war von vorneherein klar. Das merkt man auch und hört man auch. Aber wir leiden nicht, sondern wir tun. Schengen ist dafür ein gutes Beispiel. Es gibt objektiv Probleme im Bereich der Migration, die nur am Rande mit Schengen zu tun haben. Wir Grüne arbeiten an Lösungen. Wir werden mit der schwedischen und der spanischen EU-Präsidentschaft Kontakt aufnehmen, damit 2023 was gelingt. Man muss schon eines einräumen. Es kann nicht sein, dass wir in Österreich regelkonform mehr als 100.000 Personen registrieren und dabei draufkommen, dass 75.000 bis 80.000 gar nicht vorher registriert worden sind. Die Probleme liegen in Wahrheit bei Ungarn. Würden wir bei der Logik des Innenministers bleiben, dann müsste man Ungarn aus Schengen rausschmeißen, weil von dort die meisten nicht registrierten Übertritte nach Österreich stattfinden.
Ungarn hat sogar einen Zaun an der Südgrenze?
Genau, und daran erkennt man, dass ein Zaun allein nichts hilft. Deshalb arbeiten wir an Lösungen. Und ich glaube, dass uns das gelingen wird.
Rumänien und Bulgarien sollen im nächsten Jahr in die Schengenzone aufgenommen werden?
Das ist das Ziel.
Wie sollte das Asylsystem künftig aussehen? Sollen die Leute an der Außengrenze registriert werden, in Aufnahmezentren warten, ob sie Asyl erhalten, auf Europa aufgeteilt werden, während jene, die keinen positiven Bescheid erhalten, abgeschoben werden?
Es gibt kein geschlossenes, einheitliches Modell, das funktioniert. Jeder ist ein Scharlatan, der behauptet, dass man das alles ganz genau vermessen und hinkriegen kann. Wichtig ist, dass wir eine Ordnung hineinbringen, weil das die Voraussetzung für Humanität ist. Was sich bei den europäischen Bürgern und Staaten nicht ausgeht, ist, wenn der Eindruck von ungeordnetem Zuzug entsteht. Das verstehe ich. Umgekehrt ist es wichtig, dass die Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention voll und ganz akzeptiert wird. Wenn es bestimmte Fluchtgründe und Gründe für Asylanträge gibt, wird man sie gewähren.
Ein Einschub zum Umweltschutz: Die Grünen fordern gern alternative Energieformen. Wenn es an die Umsetzung geht, gibt es an der Basis Widerstand. Nördlich von Graz soll ein neues Kraftwerk errichtet werden, es formiert sich der Widerstand. Müssen die Grünen nicht über den Schatten springen?
Die Energiewende ist der Schlüssel für alles. Wir wollen alles auf erneuerbaren Stromgewinn umstellen. Konkret heißt es auch, dass die Behörden die Verfahren beschleunigen müssen. Wir können nicht ein- und dieselbe Fragen in verschiedenen Verfahren dreimal behandeln. Die Natur muss natürlich zu ihrem Recht kommen, aber deshalb müssen nicht die Verfahren in die Länge gezogen werden. Die Bundesländer sind da in der Ziehung, denn sie müssen die Eignungsflächen bekannt geben.
Wenn die Bundesländer zaudern und zögern`?
Wenn das so ist, ziehen wir es durch. Die Rechte der Anrainer und der Natur bleiben gewahrt. Es kann nicht sein, dass manche Länder keine Flächen für die Windkraft ausweisen.
Und die Wasserkraft?
Die Wasserkraft wird beim Ausbau nicht mehr die große Rolle spielen, die die Photovoltaik und der Wind haben, denn die Wasserkraft ist zu 80 oder 90 Prozent ausgebaut. Beim Wind gibt es noch viel Luft nach oben. Es werden noch Wasserkraftwerke gebaut werden, aber das Potenzial ist relativ klein. Gut ist es, die Leistung bestehender Kraftwerke zu optimieren.
Was ist mit der Kernfusion?
Für die große Energiewende kommt die Kernfusion zu spät. Aus meiner Sicht ist die Kernfusion ein naturwissenschaftlich weiterverfolgenswertes Thema. Darauf für die Energiewende zu warten, wäre völlig falsch.
Treten Sie bei der nächsten Wahl eigentlich als Spitzenkandidat an?
Ich bin einmal für drei Jahre als Bundessprecher gewählt. Wir gehen davon aus, dass 2024 gewählt wird. Die Entscheidungen werden wir dann treffen. Ich bin froh, dass wir so viele gute Leute in den Ländern und auch in der Regierung haben. Die Geschichte werden wir so machen, wie ich sie immer gehandhabt habe: Wir reiten jetzt mal in die Stadt, und der Rest ergibt sich.
Entschieden wird 2023?
Im Herbst werden wir die Frage der Kandidatur zum EU-Parlament klären, dann kommt die nächste Entscheidung. Damit sind wir gut gefahren. Die Grünen hat es bundesweit gar nicht mehr gegeben, niemand hat uns zugetraut, dass wir zurückkommen. Wir werden auch künftig unseren Instinkten vertrauen.
Ist künftig eine Dreier-, wenn nicht sogar eine Viererkoalition vorstellbar? Kann man da überhaupt noch regieren? Sie regieren zu zweit?
Die Zeiten sind so turbulent und so anders als in den Vergleichsjahren, dass man nichts aus der Vergangenheit ableiten kann. Es sind einfach Möglichkeiten, und die wird man bewerten müssen.
"Möglichkeiten" bedeutet, alles außer einer Koalition mit der FPÖ?
Bei der FPÖ hat man immer das Gleiche. Die implodieren, erfangen sich wieder in der Opposition, und dann geht es wieder los: Oppositionsbank, Regierungsbank, Anklagebank.