Vor neun Monaten schrillten in der niederösterreichischen ÖVP die Alarmglocken. In Waidhofen/Ybbs schaffte die impfkritische MFG bei Nachwahlen aus dem Stand 17 Prozent, die ÖVP rasselte in ihrer alten Hochburg von 60 auf 41 Prozent herunter. Die Angst war groß, dass die Pandemie Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner die Absolute kosten würde.
Unweigerlich wurden Überlegungen angestellt, ob man die für Jänner 2023 terminisierten Landtagswahlen nicht auf September, wenn die Inzidenzen im Keller sind, vorverlegen sollte. Auch um der MFG das Wasser abzugraben, wurde im Juni die Impfpflicht gekippt. Ob die jüngsten Änderungen der Berechnungsmethode bei der Bettenbelegung nicht auch dieser Wahl geschuldet sind, bleibt offen.
In jedem Fall werfen die Planspiele, die im ersten Halbjahr in den Parteizentralen angestellt worden sind, ein Schlaglicht auf die Schnelllebigkeit der Politik, auf die Halbwertzeit der innenpolitischen Themenlage, auf den konjunkturellen Erregungszustand des politischen Betriebs. In der Zwischenzeit ist Corona kein abendfüllendes Thema mehr, die Angst vor kalten Wohnungen, vor unbezahlbaren Lebenshaltungskosten, vor dem schleichenden Verlust des Lebensstandards haben alle anderen Fragen in den Schatten gestellt.
Fast alle anderen Fragen: Die jüngsten Enthüllungen über türkise Machenschaften setzen der niederösterreichischen ÖVP, die als nächste schwarze Landesorganisation Wahlen zu schlagen hat, deutlich zu. Zwischen Sebastian Kurz und Mikl-Leitner passte einst kein Blatt. Kurz war Staatssekretär unter der einstigen Innenministerin, die Niederösterreicherin förderte den Wahlniederösterreicher nach Kräften. Als Mikl-Leitner im April 2016 nach St. Pölten wechselte, um das schwerbe Erbe von Erwin Pröll anzutreten, war Kurz Außenminister, ÖVP-Chef war damals noch Reinhold Mitterlehner.
In Österreich verfügt keine andere Landespartei über eine solche Schlagkraft, einen so gut geölten Machtapparat wie die niederösterreichische ÖVP – von der Wiener SPÖ einmal abgesehen. Im Jänner 2018 konnte Mikl-Leitner mit 49,6 Prozent der Stimmen die absolute Mandatsmehrheit halten – das schaffte nicht einmal Erwin Pröll bei seinem ersten Antreten. Selbst nach den jüngsten haarsträubenden Enthüllungen, wonach sich’s die Eliten durch einen Anruf beim einstigen Spitzenbeamten im Finanzministerium Thomas Schmid richten konnten, gefallen sich Teile der ÖVP immer noch in der Opferrolle. Jüngste Umfragen prophezeien der ÖVP in Niederösterreicher einen Absturz von 49 auf 38 Prozent bei der Landtagswahl.
Nach außen hin zeigen sich die Niederösterreicher unbeeindruckt von der, wie es heißt, „Momentaufnahme“. Der Wahlkampf habe noch gar nicht begonnen, noch dazu könne man eine beeindruckende Bilanz vorlegen. Die Niederösterreicher würden am 29. Jänner über die Landes-, nicht über die Bundespolitik abstimmen. Auch in der Vergangenheit hätten die Niederösterreicher stets dem Bundestrend getrotzt.
So leicht funktioniert die Trennung allemal nicht. Laut „Krone“ werden in St. Pölten Überlegungen gewälzt, wonach Kurz seine Parteimitgliedschaft ruhend stellen soll. Kurz ist an der Basis immer noch populär. Ob ein solcher Schritt, den Kurz von sich aus vollziehen müsste, etwas ändern würde, ist fraglich.
Sich von der Bundespolitik abzugrenzen – die Strategie geht kaum auf. Im Bund haben auf ÖVP-Seite ohnehin die Niederösterreicher das Sagen. Karl Nehammer wuchs in Wien auf, wurde politisch in Niederösterreich sozialisiert. Wolfgang Sobotka war lang Chef des niederösterreichischen ÖAAB, Klaudia Tanner war einst Direktorin des niederösterreichischen Bauernbunds, Gerhard Karner war mehr als zehn Jahre in St. Pölten Landesgeschäftsführer. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker ist in Personalunion ÖVP-Vizebürgermeister von Wiener Neustadt, Nehammers Pressesprecher Daniel Kosak Vizebürgermeister von Altlengbach. Der Bundesgeschäftsführer heißt Alexander Pröll.