Ist es überraschend, dass jetzt Zelte für Flüchtlinge errichtet werden müssen?
JUDITH KOHLENBERGER: Nein, das ist überhaupt nicht überraschend. Die Bundesbetreuungsagentur (BBU) weist meines Wissens nach seit Monaten intern darauf hin, dass es zu dieser Zuspitzung kommen wird, wenn die Länder nicht entsprechend Kapazitäten zur Verfügung stellen. Das hat sich lange abgezeichnet, es ist eine künstlich geschaffene Krise.
Wie kann man Zelte verhindern?
Die Länder müssten die gesetzlich verpflichtende Quote erfüllen. Das tun alle außer Wien und dem Burgenland nicht. Bis zur Zulassung ihres Asylverfahrens muss der Bund die Asylwerbenden aufnehmen und versorgen. Nach Zulassung des Verfahrens haben sich die Bundesländer verpflichtet, die Asylwerbenden binnen zwei Wochen aufzunehmen. Und da ist jetzt der Flaschenhals: Das passiert in den meisten Bundesländern nicht. Wir haben derzeit in den Bundesländern rund 5000 Asylwerbende weniger als 2019. Das wäre natürlich entsprechend aufzustocken.
Warum bleiben viele der Menschen, die jetzt in Österreich ankommen, nicht im Asylsystem?
Wir haben tatsächlich eine große Differenz zwischen jenen, die einen Asylantrag stellen und jenen, die in der Grundversorgung aufschlagen. Das liegt daran, dass ein hoher Anteil innerhalb von Tagen oder Wochen weiterreist. Es werden auch relativ viele Verfahren nicht negativ entschieden, sondern eingestellt, weil der Antragssteller nicht mehr auffindbar ist - also weitergereist ist.
Das liegt an fehlenden legalen Einreisemöglichkeiten für Personen, die klassischerweise keine Asylbewerber sind und auch gar nicht sein wollen, sondern die eigentlich der Arbeitsmigration zuzurechnen wären. Aber da sie aus Indien, Pakistan oder Tunesien kommen, haben sie häufig gar keine legalen Einreisemöglichkeiten. Ich vermute, dass viele von ihnen, wenn sie weiterreisen, dort nie registriert werden. Die arbeiten dann schwarz als Erntehelfer oder ähnliches. Das löst ein weiteres Problemfeld der Arbeitsausbeutung bis moderner Sklaverei aus.
Wenn sie in Spanien oder Italien untertauchen und schwarz arbeiten können, können sie das doch auch in Österreich tun?
Wie viele Menschen in Österreich untergetaucht sind, weiß ich nicht. Das ist natürlich auch schwer zu erfassen, weil diese Menschen in der Statistik fehlen. Mir wäre allerdings im Straßenbild nicht aufgefallen, dass besonders viele indische Menschen bereits ansässig sind. Aus Berlin höre ich aber, dass im Sommer bereits auffällig wurde, dass dort bei Essenslieferanten zum Beispiel - also einer klassisch prekären Anstellung - sehr viele indische Auslieferer beschäftigt sind. Das ist in Österreich noch nicht so sichtbar geworden.
Der Grund, warum sie eher nach Spanien, Italien oder Deutschland gehen, ist, dass sie dort bereits Netzwerke aufgebaut haben. Manche geben auch an, schon vor der Corona-Krise dort gearbeitet zu haben. Es gibt einen deutlichen, sogenannten Community-Effekt: Nämlich dass Menschen dorthin gehen, wo schon andere Personen aus dem eigenen Land, der eigenen ethnischen Community ansässig sind. Das ist sicherlich hier der Fall. Das kann auch einen positiven Effekt für die Integration haben kann, wenn es legalisiert ist.
In den Zelten sollen ausschließlich Männern ohne Bleibewahrscheinlichkeit untergebracht werden. Ist das nicht sogar sinnvoll, wenn viele Inder, Pakistani oder Tunesier ohnehin nicht hierbleiben wollen?
Die Frage ist, wie es mit den rechtlichen Bestimmungen vereinbar ist. Asyl ist immer eine Einzelfallprüfung. Auch unter den jetzt ankommenden indischen Staatsangehörigen gibt es Einzelfälle, die Asyl gewährt bekommen. Das sind nicht viele, aber es gibt sie.
Wenn man das davor schon differenziert, ohne aber den Ausgang des Asylverfahrens zu kennen, entscheidet eigentlich die Nationalität, wo man unterkommt. Das kann als diskriminierend eingeschätzt werden. Sinnvoll wäre es, dass es gar nicht so weit kommt. Sinnvoll wäre es, den Leuten, die eigentlich andere Einreisemöglichkeiten brauchen und offenbar auf einen gewissen Arbeitskräftebedarf antworten, diese Möglichkeiten zu geben. Denn das Asylsystem ist für immer das Teuerste.
Da müssten aber Spanien, Italien und Co. ihre Einreiseregeln ändern.
Absolut. Es bräuchte eine gesamteuropäische Lösung. Das sagt man immer so leicht, ist aber natürlich schwierig. Man hat es nun zumindest geschafft, auf Serbien einzuwirken, damit die dortige Visapolitik geändert wird und etwa Inder nicht mehr ohne Visum einreisen können. Das ist aber mit Ankündigung passiert. Und wir wissen aus der Forschung, dass dadurch bei Schleppern, aber auch Migrantinnen und Migranten eine Art "jetzt oder nie" entsteht.
Heißt das im Umkehrschluss, dass die jetzige starke Belastung im Jänner wieder abflachen könnte?
Mit Blick auf Indien sicherlich. Dazu kommt der saisonale Effekt: Wir sehen im Herbst eigentlich immer einen Anstieg der Migration, weil irgendwann wird es so kalt, dass die irreguläre Migration über Mittelmeer und Westbalkanroute gar nicht mehr geht.
Gleichzeitig kann es aber gerade in diesem Winter sehr gut sein, dass sich umgekehrt der Angriffskrieg in der Ukraine so entwickelt, dass von dort wieder mehr Menschen flüchten - oder russische Deserteure kommen, die auch in dasselbe System hineinfallen.
Für die nächsten Wochen und Monate würde ich aber eher mit steigenden Zahlen rechnen. Da gibt es wohl noch wenig Entspannung.
Wie lässt sich diese Situation mittel- und langfristig verhindern?
Vom Ausbau des Grenzschutzes über das Abkommen mit der Türkei bis zur vermeintlichen Schließung der Balkanroute werden seit 2015 eigentlich immer die gleichen Rezepte angewandt - obwohl die eigentlich seit Jahren verdeutlichen, dass sie nicht tauglich sind, um die Asylantragszahlen zu reduzieren und das Schlepperwesen zu bekämpfen.
Wenn jemand die Möglichkeit hätte, ein Visum zu beantragen, wenn es einen Bedarf an der Arbeitskraft auch im niedrig-qualifizierten Bereich gibt, dann bräuchte er weder Schlepper noch müsste er über die grüne Grenze wandern. Das wäre die eine Säule, die im System fehlt. Es braucht auch Rückweisungen von Menschen, die keinen Schutzbedarf haben und natürlich muss man das Schlepperwesen bekämpfen.
Solange wir nur auf Abschottung, Abschreckung und Auslagerung setzen, werden Migrationskrisen immer und immer wieder als episodisches Thema aufkommen.
Maximilian Miller