VÖP statt ÖVP ist keine weitere Umtaufe, sondern beschreibt den Weg Karl Nehammers am Dienstag vergangener Woche. Während der Parlamentsklub der Volkspartei noch seine Klausur ausklingen ließ, besuchte der Kanzler zwei Heurige weiter den Verband österreichischer Privatsender. Im Schlepptau neben der dauerstrahlenden Medienministerin Susanne Raab auch Staatssekretär Florian Tursky. Nur der Innsbrucker Amtsneuling wirkte noch verkniffener als sein Parteichef, den die Generalsekretärin verlassen hatte. Denn er kann seit Wochen bloß hilflos rapportieren: „Im Westen nichts Neues“. Der Tiroler Volkspartei droht bei der Landtagswahl am Sonntag das größte Debakel ihrer Geschichte.

Das allein wäre für die ÖVP schon schlimm genug, doch ginge nicht derart ins Mark wie Ärger in der Steiermark, Nieder- und Oberösterreich, den Kernländern mit Millionenbevölkerung. Doch die zeitliche Abfolge mit Bundespräsidentschafts- und drei weiteren Regionalwahlen parallel zu den nächsten erwarteten Corona-Wellen ist Sprengstoff für eine Partei, die seit dem Abgang ihres Zwischenhoch-Gurus Sebastian Kurz zwischen externer und interner Krisenüberwältigung irrlichtert.

Tirol taugt zudem als Menetekel für den Juniorpartner in der Bundesregierung. Nach Kärnten, Oberösterreich und Wien wäre dies schon der vierte grüne Abschied aus einer Landeskoalition. Die einstigen Vielfach-Aufsteiger geraten zu Paternoster-Fahrern. Anders als in der ÖVP wird daraus aber kaum eine Personal- sondern bloß die Tempofrage erwachsen: Wann löst Leonore Gewessler Werner Kogler an der Parteispitze ab?

Zu lange mit dem Personalwechsel gezögert

In Tirol wurde zu lange gezögert. Klubchef Gebi Mair hat erst im Juni eine Kampfabstimmung um die Spitzenkandidatur gewonnen. Die frühere grüne Bundessprecherin Ingrid Felipe blieb aber Stellvertreterin von Landeshauptmann Günther Platter, der nicht weicht – bis zum bitteren Ende. Ein taktischer Kapitalfehler mit verheerenden strategischen Folgen für Wunsch-Nachfolger Anton Mattle und die Partei, die sich hinter dessen Namen auf dem Wahlzettel versteckt.

Die Inkonsequenz dieses regionalen Personalwechsels wird auch an der Geduld mit Nehammer auf Bundesebene nagen. Er hatte seine Chance. Doch der ursprüngliche Versuch, sich als zwar harter, aber pragmatischer und letztlich gar sympathischer Macher zu profilieren, ist auf allen drei Linien gescheitert.

Das mag dem multiplen Krisenmodus geschuldet sein. Ein Schlupfloch aus der Anmutung von Hilflosigkeit böte in der Ära der Politikverkäufer die Figur des Hoffnungsträgers. Der Kanzler allerdings wirkt wie ein Holzschnitt der unerträglichen Schwergewichtigkeit des Seins. Wenn in Tirol kein Stein auf dem anderen bleibt, wäre das nicht Ursache, böte aber Anlass, den flugs entzauberten Nehammer loszuwerden.
Dann bräuchte es noch jemanden, der sich das freiwillig antut: höchstens zwei Jahre Dienstzeit, die größte Krisenballung der Zweiten Republik, eine ÖVP zwischen Selbstfindung und Panikmodus sowie zwei Oppositionsparteien, die in Umfragen schon mehr Zuspruch genießen.

Bei der Tirol-Wahl werden zwar weder für SPÖ noch FPÖ die Bäume in den Himmel wachsen, aber von einer roten wie blauen Verbesserung gehen alle Meinungsforscher ebenso aus wie von deutlichen Zuwächsen der Neos. Das sollte die Opposition auch auf Bundesebene insgesamt konsolidieren und könnte dort bei den Sozialdemokraten überdies die erste Reihe stärken: Ein geläuterter und per Regierungsamt im Image rehabilitierter Georg Dornauer würde noch öfter als schon bisher auch die Wiener Bühne suchen. Das wäre Neuland für einen Landespolitiker aus Tirol.

Auch Nehammers Schicksal hängt an Mattle

Dort vollzieht sich zudem ein Showdown der Wahlkampfinstrumente für Kleinparteien: MFG, die nun plakatlos agierende Formation der Impfgegner und Corona-Leugner sollte mangels entsprechender Themenkonjunktur an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Der Einzug in den oberösterreichischen Landtag aus dem vermeintlichen Nichts war auch aufgrund einer geschickten Digital-Strategie via Telegram und Facebook gelungen. Dem Tirol-Spezifikum Liste Fritz hingegen wird eine Verdoppelung seiner zuletzt 5,5 Prozent zugetraut. Es kommt nahezu ohne Social Media aus.

Sämtliche Einschätzungen beruhen aber auf „Infotainment“, wie Politikwissenschaftler Ferdinand Karlhofer die omnipräsente Meinungsforschung zur Wahl bezeichnet.

Sollte eine schwarzrote Regierung möglich werden, käme nicht nur die Landespolitik wieder rasch in ruhigeres Fahrwasser sondern wäre auch der auch der bundespolitische Sturm im Wasserglas rasch vorbei. Für sie gäbe es bloß ein zweites Modell wie in der Steiermark. Stürzt Mattle jedoch unter 30 Prozent, könnte er schnell Geschichte sein. Und damit auch die Absage an die FPÖ. Dann scheinen nahezu oberösterreichische Verhältnisse – schwarzblau allenfalls plus allfälliger dritter Partei – möglich. Eine solche regionale Situation hätte nicht nur grundsätzliche Auswirkungen auf nationale Verhältnisse. Auch Personalwechsel in ÖVP-Zentrale und Kanzleramt würden wahrscheinlicher.

Tursky, der beim VÖP-Heurigen noch sehr vorsichtig wirkende ÖVP-Team-Novize gilt aber (noch) nicht als Tirol-Reserve. Im Nachhinein wirkt der Wechsel des einstigen Landeshauptmann-Büroleiters nach Wien bloß als erstes Mai-Indiz für Platters überraschende Rücktrittsankündigung im Juni. Vorerst bleibt er der „Staatssekretär Wer?“ Diese Rolle hatte zuvor Magnus Brunner, der dennoch schon als Vorarlberger LH-Reserve gehandelt wurde. Seit er Finanzminister ist, empfiehlt er sich für mehr. Während Nehammer beim Heurigen saß, gab er ein langes Interview im ORF-„Report“. Er profiliert sich als telegen, wortgewandt und nett. Das reicht mittlerweile für fast alles.