Herr Professor Lendvai, zum Schluss Ihres neuen Buches "Vielgeprüftes Österreich" ziehen Sie über unser Land das etwas resignierte Resümee "ein betrübliches Sittenbild". Wie kommen Sie darauf?
Paul Lendvai: Aufgrund der berühmt-berüchtigten Chats, die in den vergangenen Jahren veröffentlicht wurden. Dass Leute, die so über andere Menschen, Kollegen, Kirche, Medien sprechen – und wie sie generalstabsmäßig eine Machtübernahme in einer großen, tiefverwurzelten Partei vorbereitet haben und was dann passierte. Ich habe mich verpflichtet gefühlt, meine Meinung dazu ungeschminkt zu sagen – daher dieses Buch, daher diese Konklusion.
Viele glauben ja, diese Chats zeigen nur einmal offen, was in den vergangenen Jahrzehnten eh immer gelaufen ist. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ich weiß nicht, ob das durchgehend so war. Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu Bruno Kreisky – der hat etwa den Finanzsprecher der ÖVP Stephan Koren zum Präsidenten der Nationalbank, den parteilosen Katholiken Rudolf Kirchschläger zum Bundespräsidenten gemacht. Wenn man stark ist, dann kann man sich leisten, auch solche ungewöhnliche Dinge zu machen.
Heißt das im Umkehrschluss, Sebastian Kurz – Sie bezeichnen ihn als "Politschauspieler" – war nicht stark?
Ich glaube, Kurz hat sehr viel Glück mit der Situation in der österreichischen Politik gehabt und mit der Situation in der ÖVP. Er wäre eine große Gefahr für Österreich gewesen, besonders, was die Folgen der Regierung mit der FPÖ betrifft. In einem normalen Land wäre es ganz natürlich, dass politische Gruppen abwechselnd an der Macht sind. Aber Kurz hat einer solchen Partei alle Geheimdienste überlassen. Und auch die Abhängigkeit von Russland in der Gasversorgung ist nicht vom Himmel gefallen. Das wurde gewollt, wie das der frühere Generaldirektor der OMV gesagt hat – und da haben Putin-Freunde wie Siegfried Wolf eine wichtige Rolle gespielt.
In Ihrem Buch stellen Sie die jüngere Geschichte der österreichischen Parteien einzeln in Kapiteln dar, wie sie sich entwickelt haben. Welche Partei hat Sie am meisten fasziniert?
Mich haben keine Parteien, sondern eher Persönlichkeiten beeindruckt. Reinhard Kamitz zum Beispiel, Alois Mock, auch Wolfgang Schüssel. Ich bin gegen eine zu große Zersplitterung der Parteienlandschaft.
Lässt sich das denn vermeiden? Die Tendenz geht seit Jahren in Richtung Zersplitterung.
Das ist die ganz große Frage. Was Österreich stabil macht, ist – ähnlich wie in Deutschland – die föderale Struktur. Österreich kann ohne föderale Strukturen nicht existieren, aber auch mit einer föderalen Struktur nur sehr schwer. Es ist unglaublich, dass die Konferenz der Landeshauptleute, die in der Verfassung nicht vorgesehen war, das wichtigste Organ ist, oft wichtiger als die Regierung. Und wir haben auch gesehen, wie eben in der Steiermark, wie der sonst von mir sehr geschätzte Ex-Landeshauptmann einen sehr guten Unterrichtsminister abgelöst hat – durch jemanden, der viele Fragen offenlässt.
Die Parteien in der Bundesregierung haben gerade noch ein Drittel der Bevölkerung hinter sich, wenn die Umfragen recht behalten. Warum ist das so?
In der Politik gibt es nie einen einzigen Grund. Da haben Sie die Probleme mit der Pandemie, bei der es überall ähnliche Schwierigkeiten wie in Österreich gab. Nummer zwei die finanziellen Probleme, drittens die Persönlichkeiten. In einer solchen Situation sind ganz besondere Persönlichkeiten mit sehr starken Fähigkeiten erforderlich. Aber wir haben einen Niedergang des Niveaus des politischen Personals. Aufgrund des jahrzehntelangen Proporzsystems gehen sehr viele jüngere Leute nicht in die Politik, sondern lieber in die Wirtschaft.
Ein pessimistischer Befund. Wie kommen wir da heraus?
Schauen Sie, man kann nichts voraussagen. Ich habe niemanden getroffen, der vorausgesagt hätte, dass der Ostblock ohne einen Schuss zusammenbricht. Niemanden, der nach dem Krieg vorausgesagt hätte, dass die Deutschen und Franzosen zusammen eine Europäische Gemeinschaft, eine Europäische Union bilden werden. Man kann weder das Böse noch das Gute voraussehen.
Sie sind mit Ihren nüchternen Analysen ein Vorbild für viele Journalisten. Machen die Medien ihre Aufgabe gut?
Das hängt von den einzelnen Medien ab, von dem Besitzer, der Chefredaktion und von den Journalisten. Man kann das nicht pauschal sagen, auch nicht über die Politik oder die Journalisten. Aber ich glaube an die Unabhängigkeit der Medien: Ich war 15 Jahre im ORF Chefredakteur und Kurzwellenintendant, leite noch immer das Europastudio und niemand hat mir reingesprochen oder mir gesagt, welches Programm ich machen oder wen ich einladen soll.
Sie haben gesagt, niemand kann voraussehen, wie sich die Welt entwickeln wird, aber man hat schon manchmal den Eindruck, dass Österreich unvorbereitet ist, wenn man sich etwa den Zustand unseres Bundesheers ansieht. War Österreich zu lange mit Scheuklappen unterwegs?
Wenn man die Neutralität behaupten, schützen und vor allem verteidigen will, braucht man ein Bundesheer. Dazu braucht man einen Minister, der Prestige und Ansehen hat. Seit Jahren gibt es keinen solchen Verteidigungsminister oder -ministerin. Die SPÖ hat einen Mann ernannt, der nicht gedient hat, sondern Zivildiener war. Jetzt haben wir eine Dame von der ÖVP, die eine – wie man hört – landwirtschaftliche Expertin ist, aber nie etwas mit dem Bundesheer, mit der Rüstung, der Bestellung zu tun gehabt hat, aber die Schwägerin eines der wichtigsten Berater Kurz' ist. Dazu geht es auch hier um Integrität – beim Ankauf von Flugzeugen zum Beispiel. Das ist etwas, das nicht nur das Bundesheer, sondern auch den Kern der Politik, Anstand und Glaubwürdigkeit betrifft. Da kann man nicht separat über das Bundesheer reden. Es ist ein Spiegel der Problematik.
Ist Österreich in seiner Neutralität gefestigt?
Es wäre wichtig, dass man das Land auch vor Leuten schützt, für die ihr Vermögen wichtiger ist als die Stärkung der Heimat. Man sollte die Haltung der Politiker in den letzten Jahren unter die Lupe nehmen. Wer sich da nicht aufraffen kann, aufrichtige Selbstkritik zu üben, sollte nicht zu politischen Fragen Stellung nehmen.
Selbstkritik ist nicht die österreichischste Tugend, oder?
Leider nicht, aber es wäre wichtig. In unserem Land sind zeitweilig 20 bis 25 Prozent bereit, extremen Ansichten zu folgen, sonst hätte die FPÖ nicht diese wiederholten Erfolge gehabt. Ich sage nicht, dass Österreich verloren ist – aber Österreich befindet sich in einer schwierigen Situation und wir sind alle verwöhnt, verdorben vom Wohlstand und der Problemlosigkeit. Das wird auch jetzt bei den Sanktionen wieder ein Problem sein. Ich hoffe, dass solche Politiker das Sagen haben werden, die nicht sofort bereit sind, alles über Bord zu werfen, nur, weil die letzte Meinungsumfrage minus zwei Prozent zeigt.
Georg Renner