Wie lang wird aus Ihrer Sicht der Krieg in der Ukraine noch dauern? Wochen, Monate oder womöglich sogar Jahre?
FLORENCE GAUB: Ein schnelles Kriegsende wird es nicht geben. Die allermeisten Kriege zwischen Staaten dauern im Durchschnitt 15 Monate. Im aktuellen Fall steht für beide Seiten strategisch extrem viel auf dem Spiel. Wir sind in der Phase, wo sich beide Seiten verkeilt haben. Von außen sieht es so aus, als ob sich nichts bewegt.
Fast wie bei einem Stellungskrieg.
Das heißt nicht, dass der Krieg zum Stillstand gekommen ist. Es ist die Vorbereitung für die nächste Phase, wo eine oder beide Seiten versuchen werden zu eskalieren, um ein Ende herbeizuführen, weil beide müde werden. Es muss nicht gleich die Atombombe sein, man kann emotionale Ziele anvisieren, wie den Hafen von Odessa, Kiew, umgekehrt auch Moskau.
Kriege durchlaufen verschiedene Folgen und Episoden, Kriege sind Geschichten, die erzählt werden müssen und mehrere Monate dauern können. Der Krieg kann durchaus auch in einen eingefrorenen Konflikt münden, wo zwar die Waffen schweigen, der Konflikt aber über Jahre hinaus nicht gelöst wird.
Weil Sie es selbst angesprochen haben: Wie wahrscheinlich ist aus heutiger Sicht der Einsatz von Nuklearwaffen?
Im Englischen gibt es den Begriff des "One-Trick Pony", das ist eine Karte, die kann man nur einmal spielen. Die Drohung mit der Bombe ist wesentlich effizienter als die Bombe selbst.
Stellen Sie sich vor, Russland zündet so eine Mini-Nuke über dem Schwarzen Meer, und die Ukrainer geben trotzdem nicht auf. Dann ist ihr ganzes nukleares Arsenal plötzlich wertlos. Nicht die Bombe ist die Waffe, sondern die Angst vor der Bombe. Ich würde den Leuten gerne die Angst nehmen. Natürlich kann man es nicht ausschließen, aber ich halte es für extrem unwahrscheinlich.
Nicht nur in Österreich, in ganz Europa stellt sich in Abstufungen eine Kriegsmüdigkeit ein. Befürchten Sie, dass die Bevölkerung der Politik bei den Sanktionen gegen Moskau die Unterstützung versagt, weil der Preis, der zu bezahlen ist, ein zu hoher ist – Stichwort Energiepreise und die fatale Teuerungsspirale?
Die Gefahr ist in jeden Fall da und diese ist allen europäischen Entscheidungsträgern bewusst. Andererseits erinnern Sie sich an Covid-19: Man glaubt oft, unsere Bürger wollen es in erster Linie gut haben, der Rest ist ihnen egal.
Während der Pandemie ging es dann auch um größere Belange, um Begriffe wie Zusammenhalt, Werte, Demokratie, von denen wir dachten, sie wären altmodisch. Die Leidensfähigkeit der Bürger ist größer, als man denkt. Ich will nicht sagen, die Politiker haben einen Blankoscheck und können machen, was sie wollen. Man muss es den Leuten natürlich sehr genau erklären.
Ich glaube dennoch, dass die meisten Menschen nach wie vor hinter der Ukraine stehen aus dem Prinzip heraus, dass hier Unrecht geschieht. Wir beschweren uns über hohe Gasrechnungen, aber gehen Sie einmal zurück zum Zweiten Weltkrieg und schauen Sie sich an, welche Opfer die Länder gebracht haben, weil sie an etwas geglaubt haben, das größer war als sie selbst.
Sie meinen die Amerikaner, die Alliierten?
Die Amerikaner haben große Opfer gebracht, sie haben sich auch sehr hoch verschuldet, um Hitler und das Nazi-Regime zu stürzen. Sie hätten auch sagen können, wir bleiben neutral und halten uns raus.
Nach dem Fall der Berliner Mauer, nach Ende des Kalten Krieges, war immer von der Friedensdividende die Rede. War's das jetzt mit der Friedensdividende?
Wir haben uns vor Februar in unserem Alltag gemütlich eingerichtet und sind davon ausgegangen, dass alles so bleibt wie bisher. Aber so funktioniert die Welt nicht. Die Geopolitik kennt keinen Alltag, der gemütlich ist. Im Februar sind wir aufgewacht. In Deutschland gibt es das Konzept der wehrhaften Demokratie. Wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen.
War die Hoffnung, dass durch die Sanktionen Putin intern unter Druck gerät und den Krieg beendet, naiv?
Es gab historisch wenig Anlass, dieses Szenario wirklich ernst zu nehmen. Wenn Sie sich die Geschichte ansehen, ist es extrem selten, dass Bevölkerungen sich in einer Kriegssituation gegen die Regierungen stellen. Wenn es dazu kommt, dann dauert es ein paar Jahre, wie in den USA beim Vietnam-Krieg. Meistens lösen Kriege eine Wagenburg-Mentalität in der Bevölkerung aus.
Aber Widerstand aus dem Innersten gegen Putin?
Sie spielen auf das Stauffenberg-Szenario an, aber das Attentat passierte ziemlich spät im Krieg (Anm. d. R: im Sommer 1944, fast fünf Jahre nach Kriegsausbruch). Sollte so was passieren, dann bestimmt nicht in diesem Jahr. Dazu müsste der Krieg noch länger dauern, damit sich die Bevölkerung oder ein enger Zirkel gegen Putin auflehnt.
Österreich rühmt sich seiner Neutralität. Ist diese noch zeitgemäß?
Die Frage ist vielmehr: Kann man überhaupt neutral sein, wenn man in der EU ist? Hat man sich da nicht für ein Lager entschieden? Die Neutralität gehört zu Österreichs politischer Kultur dazu, das heißt aber nicht, dass Österreich vor irgendwelchen Angriffen sicher ist. Das ist vielleicht die einzige Gefahr dabei, dass man sich denkt: Wir sind neutral und deshalb greift uns keiner an.
Das Gegenargument lautet, Österreich ist von Nato-Staaten und der Schweiz umgeben, da kann uns nichts passieren.
Ich kenne das Argument. Auch Deutschland ist von Nato-Staaten umgeben und von Österreich geht vermutlich keine Gefahr aus. Wenn Sie sich die sicherheitspolitische Landschaft anschauen, gehen Gefahren nicht nur von der territorialen Ebene aus.
Man ist ganz schnell im österreichischen Luftraum, außerdem gibt es die Möglichkeit der politischen Manipulation oder Wahlmanipulation. Der Cyberspace kennt keine Grenzen. Österreich ist zwar territorial sicher, es hat aber andere Schwachstellen. Dem österreichischen Militär ist das sehr bewusst, vielleicht nicht so sehr der österreichischen Öffentlichkeit.
Was hat es mit der Europa-Armee auf sich? Ist diese realistisch oder nicht doch eine Wunschvorstellung, weil man immer auf die Hilfe der USA angewiesen ist?
Schauen Sie sich die Ukraine an: Ohne die USA, ohne Großbritannien würde die Ukraine heute nicht mehr existieren. Der überwiegende Teil der militärischen Unterstützung kommt von den USA, Großbritannien, auch Polen. Das wird sich in den nächsten zehn bis 20 Jahren ändern. Schon heute blicken die USA in Richtung China. Russland betrachten die Amerikaner eher als Klassenrabauken, der ein bisschen Radau macht, aber die große strategische Herausforderung ist China. Die Europäer werden sich mittel- und langfristig um ihre Verteidigung selbst kümmern müssen. Daran führt kein Weg vorbei.