Es war ein ungewöhnlicher Termin. Am Rande seines Wahlkampfauftritts in Graz traf Bundespräsident Alexander Van der Bellen den früheren steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer. Der langjährige ÖVP-Politiker überraschte Van der Bellen zur Begrüßung mit einer amtlich beglaubigten Unterstützungserklärung. Bei dem Gespräch in einem Gastgarten eines Grazer Hotels ging es um die krisenhafte Entwicklung in Folge des russischen Angriffskriegs, die Polarisierung der Gesellschaft, aber auch um die Androhung des blauen Mitbewerbes Walter Rosenkranz, nach Amtsantritt womöglich sofort den Kanzler und die Regierung in die Wüste zu schicken.
Österreich stehen schwierige Zeiten bevor. Müsste es da nicht einen Schulterschluss zwischen Regierung und Opposition, Bund und Ländern geben? Müssten Sie nicht als Bundespräsident ein Machtwort sprechen?
ALEXANDER VAN DER BELLEN: Ein Machtwort, das ist leicht gesagt. Die Situation ist so komplex, wie wir es in den letzten Jahrzehnten nicht erlebt haben. Hier kumulieren mehrere Krisen. Der Angriffskrieg auf die Ukraine und dessen Folgen, die Sorgen der Bürger wegen der enormen Teuerung, die Fragen der Versorgungssicherheit mit Gas, auch die Folgen von Covid. Die Kernaufgabe von Politik ist es, die Dinge offen anzusprechen, den Leuten kein X für ein U vorzumachen, zu signalisieren: Wir werden auch diese Krise durchstehen und die entsprechenden Maßnahmen setzen. Es wird nicht die letzte sein.
Herr Altlandeshauptmann, Van der Bellen hat die Regierung bei den Festspielen in Bregenz aufgefordert, endlich zu arbeiten. Hat er recht?
HERMANN SCHÜTZENHÖFER: Zu aktuellen politischen Fragen will ich mich nicht äußern. Da muss man sich manchmal die Zunge abbeißen. Aber ich trete leidenschaftlich für Bundespräsident Alexander Van der Bellen ein.
Warum tun Sie das?
SCHÜTZENHÖFER: Wir haben seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht solche Krisen gehabt – von den Flüchtlingen über die Pandemie bis zum Krieg vor der Haustür. Wirklich entscheidend war für mich die Verfassungskrise. Da habe ich mir gesagt, wenn ich nicht mehr Landeshauptmann bin, möchte ich in der ÖVP ein bisschen mithelfen, dass wir sagen: Es ist zwar eine Frage der Selbstachtung, dass man kandidiert. Es ist aber auch eine Frage der demokratischen Reife, dass man darauf verzichtet, wenn jemand Österreich so gut durch die Krise gesteuert hat wie Van der Bellen.
Kommt so ein Verzicht nicht der Selbstkapitulation einer staatstragenden Partei wie der ÖVP gleich?
SCHÜTZENHÖFER: Überhaupt nicht. Ich sehe darin ein Kompliment an den amtierenden Bundespräsidenten. Er hat uns Politikern oft den Spiegel vorgehalten. Das hat mir nicht immer gefallen. Aber wir sind in einer wahnsinnig sensiblen Zeit. Da dürfen wir den Fels in der Brandung, den wir haben, nicht verlieren. Wir sollten uns auf keine Experimente einlassen.
Herr Bundespräsident, Sie sagen, man müsse den Leuten reinen Wein einschenken. Ist die Wahrheit überhaupt zumutbar?
VAN DER BELLEN: Ja schon. Ich habe großes Vertrauen und Zutrauen in die Österreicherinnen und Österreicher. Die Leute spüren, dass etwas im Gange ist, dass große Veränderungen stattfinden. Wir haben auf der einen Seite wirtschaftlich fast eine Boomsituation. Die Firmen suchen verzweifelt Arbeitskräfte. Deswegen ist es für viele schwer vorstellbar, dass sich das schon über den Winter deutlich ändern kann. Ich beneide niemanden in der Regierung, der die Komplexität dieser Situation erklären muss.
Geschieht das wirklich, oder werden die Probleme nicht nur mit viel Geld zugeschüttet?
VAN DER BELLEN: Was ist die Alternative? Jetzt ist wichtig, dass den Menschen rasch geholfen wird. Ich sehe nicht, dass Bund und Länder eine Koste-es-was-es-wolle-Politik betreiben. Man versucht, die Inflations- und Preisentwicklung, die im Wesentlichen eine Folge des Krieges in der Ukraine ist, vor allem für betroffene Menschen so abzufedern, dass sie über die Runden kommen.
Gilt die unter Corona ausgegebene Lösung "Koste es, was es wolle!" denn nicht mehr?
VAN DER BELLEN: Die Situation ist eine andere als vor zwei Jahren. Wir müssen damit rechnen, dass eine Gratisverschuldung zu Nullzinsen auf den Finanzmärkten so nicht mehr möglich ist und die Zinsen für Staatsanleihen langsam steigen. Da geht es auch um langfristige Verantwortung.
Soll der Staat den Menschen nicht zu hundert Prozent unter die Arme greifen?
SCHÜTZENHÖFER: Eine staatliche Rundumversorgung von der Wiege bis zur Bahre, das geht nicht. Das zahlen dann unsere Urenkel, die wir nie kennenlernen werden.
Was ist dann die Aufgabe des Staates in dieser Krise?
SCHÜTZENHÖFER: Wir wollen keine Gelbwesten wie in Paris. Der Staat muss dafür sorgen, dass der Kelomat nicht explodiert. Das wäre dann der Fall, wenn die Leute sich nichts mehr leisten können.
Der Aggregatzustand der Gesellschaft war schon vor Corona erhitzt. Was ist die Ursache?
VAN DER BELLEN: Das war ein schleichender Prozess. Ich tue mir schwer, das zu verstehen. Auch in meinem Freundeskreis gibt es Leute, die sich nicht impfen lassen wollen. Wir haben kurz darüber diskutiert und sind trotzdem gute Freunde geblieben. Man kann ja auch in diesem Punkt unterschiedlicher Meinung sein. Die Erfahrungen einiger Politiker zeigen, was es für Auswirkungen hat, wenn vor deinem Haus Demonstrationen stattfinden und die Kinder nur mit Polizeischutz in die Schule gehen können. Da kann ich nur bitten: Leute, stellt euch vor, das passiert euch. Kommen wir alle bitte auch immer wieder ein bisschen runter. Man kann und soll über alles streiten und diskutieren. Ich streite und argumentiere auch sehr gerne. Aber nachher geht man gemeinsam auf ein Bier und verträgt sich wieder.
SCHÜTZENHÖFER: Die Hemmschwelle ist gesunken. Mir sagen Polizisten, dass sie in Graz sogar am helllichten Tag nur mehr zu zweit oder dritt in den Stadtpark gehen, weil sie angepöbelt werden. Das ist schon auch eine Frage der Wohlstandssättigung. Die Leute jammern und es geht ihnen ja zum Großteil trotzdem gut. Die Frage ist, wie erreiche ich die, die nichts mehr wollen, kein Ziel mehr haben, materiell und gesellschaftlich. Die Pandemie hat wirklich Brüche in der Gesellschaft hinterlassen.
Die alte weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen links und rechts wird von einem Unten gegen Oben abgelöst. Bereitet Ihnen das Sorgen?
VAN DER BELLEN: Schon im letzten Präsidentschaftswahlkampf 2016 ist mein Hauptkonkurrent von der FPÖ diese Schiene gefahren. Mir geht es um Miteinander und Zusammenhalt, das macht uns gemeinsam stark. Ich vertraue da ganz auf die Urteilskraft der Bürger. In Deutschland ist Vizekanzler Robert Habeck neulich in einer Stadt niedergebrüllt worden. Es ist schwer, mit so einer Situation umzugehen, wenn man gar nicht zu Wort kommt. Man darf aber schon die Frage stellen, wieso die Leute, die diesen Lärm machen und gar nicht diskutieren wollen, glauben, mehr Recht auf den öffentlichen Raum zu haben als die anderen.
Die FPÖ sagt, Sie seien Teil des Establishments, und nichts verdeutliche das besser als die Unterstützung durch einen Altlandeshauptmann. Was erwidern Sie?
VAN DER BELLEN: Mich amüsiert das. Meine ganze Biografie zeigt das Gegenteil. Sie ist der Beweis dafür, dass Österreich ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist, in dem man als evangelisches Flüchtlingskind in Tirol, das alles andere als zur Elite des Landes gehört, doch etwas werden kann.
SCHÜTZENHÖFER: Alexander Van der Bellen ist Teil des Establishments? Das wird die Walze aller anderen sein. Aber ich sage nur eines: 2016 war er der Ausbruch aus dem Establishment. Das kann sich nach sechs Jahren nicht geändert haben.
Ihr Mitbewerber Walter Rosenkranz erwägt, die Regierung zu entlassen. Was halten Sie davon?
VAN DER BELLEN: Wir haben eine Krise, die wir seit 70 Jahren in dieser Form nicht erlebt haben. Da geht es natürlich um die berechtigten Sorgen der Menschen, ob man im Winter ausreichend heizen kann. Es geht aber auch darum, ob die Fabriken überhaupt den Betrieb aufrechterhalten können. Da geht es ans Eingemachte. Aber spielen wir es durch! Von der Verfassung her kann der Bundespräsident tatsächlich die Regierung entlassen. Aber was ist dann? Der Nationalrat bleibt bestehen. Der Bundespräsident müsste auf der Stelle eine neue Regierung etablieren, die die Mehrheit im Parlament binnen fünf Minuten stürzen würde. Es kann nicht Aufgabe eines verantwortungsvollen Bundespräsidenten sein, Chaos zu produzieren. Und Neuwahlen finden noch lange nicht statt, nur weil der Bundespräsident sich einbildet, die Regierung zu entlassen. Eine Neuwahl kann nur die Mehrheit des Nationalrats beschließen. Oder der Bundespräsident ernennt eine neue Regierung, die ihm, ehe sie einen Misstrauensantrag ereilt, einstimmig Neuwahlen vorschlägt. Erst dann könnte er den Nationalrat auflösen. Das wäre aber eine politisch noch nie vorgekommene Situation. Das riecht ein wenig nach Putsch und Willkür eines einzelnen.
Ein Putsch von oben?
VAN DER BELLEN: Mit so etwas spielt man nicht. Mit Österreich spielt man nicht. Der Bundespräsident hätte auch die Macht, Chaos zu produzieren. Aber er hat vor allem die Verantwortung, für Stabilität und Sicherheit zu sorgen. Mein Amtsverständnis ist es, im Sinne unserer Verfassung darauf zu schauen, dass die Institutionen unserer Republik funktionieren und für einen Ausgleich sorgen. Für schnellen, nicht zu Ende gedachten politischen Aktionismus stehe ich jedenfalls nicht zur Verfügung.