Ganz Österreich spricht über den Suizid der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, Medien berichten umfassend. Werden hier Grenzen hin zur Verrohung überschritten?
CHRISTA RADOS: Es gibt die Empfehlung, nicht über Suizid zu berichten, aber wenn eine Geschichte an der Öffentlichkeit ist, geht es darum, sie seriös einzuordnen – vor allem auch diese emotionale Gemengelage.
Sie sprechen die Briefe an?
Ja, denn einen sogenannten Bilanzsuizid, jemand wägt ruhig ab und entscheidet sich dann gegen das Leben oder verfolgt vielleicht sogar noch ein Ziel mit dem Tod, gibt es nach Ansicht der psychiatrischen Wissenschaft nicht. Ich rede fast täglich mit Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, sie waren manchmal schon wie in einem Schnellzug unterwegs, die Ambivalenz, das Lebensbejahende haben sie schon lange hinter sich gelassen.
Frau Kellermayr hatte bereits einen Suizidversuch hinter sich. Hätte sie zwingend stationär aufgenommen werden müssen?
Ich kenne die unmittelbaren Umstände nicht, aber nach einem Suizidversuch wird in allen Leitlinien eine stationäre Aufnahme empfohlen. Es gibt aber auch Menschen, die wissen, wie sie agieren, was sie sagen müssen, um eine Unterbringung zu vermeiden. Was offenbar verabsäumt wurde, ist Unterstützung. Da war ein Mensch in Not, gekränkt, wurde bedroht, aber man ist nicht auf sie als Individuum eingegangen. Dann kam es zu dieser Irrationalität: Ich fürchte so sehr um mein Leben, dass ich mich umbringe.
Die Ärztin wird nun von manchen Menschen als Kämpferin gegen den Coronamob ikonisiert, wie gefährlich ist das für labile Menschen?
Über die Motive einer Toten kann man nur spekulieren. Tatsache ist: Auch wenn sie sich in einem Kampf gesehen hat – und das war laut Medienberichten ja so, sie hat sich einen Panikraum eingerichtet – sie hat sich durch den Tod die Möglichkeit des aktiven Weiterkämpfens genommen. Auch der narzisstische Gewinn aus einem Abschiedsbrief, der Missstände benennt, kann ja nicht mehr gezogen werden. Suizid ist nie eine Lösung, das ist die Nachricht, die am Ende überbleiben muss.
Wie viel haben wir Medien falsch gemacht?
Journalisten sind keine Psychiater, sie sind auf eine gefasste Frau getroffen, die selbst mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen ist, Twitter aktiv bespielt hat. Den seriösen Medien ist – aus dem, was ich gesehen und gelesen habe – kein Vorwurf zu machen. Was im Netz unter dem Schutz der Anonymität geschrieben wurde, ist ein anderes Thema.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen schrieb auf Twitter: "Gestern Nacht hat eine engagierte Frau entschieden, nicht mehr weiterleben zu wollen." Viele irritierte dieser Satz. Sie auch?
Die Frage nach dem freien Willen stellen Philosophen, hier war es leider so, dass jemand keinen Ausweg mehr gesehen hat. Sie wurde als Person von ihren Ängsten überlagert und konnte nicht mehr handeln, das lässt sich aus der Ferne sagen.