Nach 200 Tagen im Amt frühstückte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Sonntag im ORF-Radio bei Claudia Stöckl. Mit Blick auf die vielen Krisen unserer Zeit zeigte sich Nehammer reflektiert, gab unter den Lustern des Bundeskanzleramts persönliche Einblicke und trank seinen dritten Espresso des Tages.
In einem "Wordrap" ließ der Kanzler Höhe- und Tiefpunkte seiner Amtszeit Revue passieren: Wirklich glücklich gemacht hat Nehammer etwa, als die ersten österreichischen Hilfskonvois Richtung Ukraine aufbrachen. Wirklich verletzt hat den Kanzler und ÖVP-Chef hingegen nichts: "Das eine ist, wie man den Schlag spürt, das andere, wie rasch verarbeite ich ihn und gehe wieder in die Offensive." Man dürfe die Dinge als Kanzler nicht zu nah an sich herankommen lassen, "weil vieles ist eine Projektion auf die Funktion und nicht unmittelbar an den Menschen Karl Nehammer".
"Das sind ja keine Jugendlichen"
Gerade im Rahmen der Affäre rund um einen Unfall der Personenschützer seiner Familie hatte sich der Kanzler emotional gezeigt. Wirklich gestört habe ihn dabei, dass "über eine politische Agitation das Sicherheitskonzept meiner Familie öffentlich geworden ist". Das sei unredlich und damit sei eine rote Linie überschritten worden, so Nehammer: Er sei 1,90 Meter groß und wiege 100 Kilogramm, "ich bin, glaube ich, genug Angriffsfläche für alle, die mich politisch angreifen wollen".
Die dienstrechtliche Konsequenz der Personenschützer sei gezogen, sind aus der Spezialeinheit Cobra ausgeschieden. Die Verantwortung liege bei ihnen, findet Nehammer – und nicht bei seiner Frau, die die Beamten zum Trinken eingeladen hatte: "Das sind ja keine Jugendlichen, sondern Anti-Terror-Spezialisten."
Schläge einstecken
"Ein total bedrückendes Gefühl" würden ihm die schlechten Umfragewerte seiner Partei bereiten – vor allem mit Blick auf die vielen Mitglieder der Volkspartei. "Volle Transparenz bei der Parteienfinanzierung, Medientransparenz" müssten das Asset sein, um den Generalverdacht gegen die ÖVP loszuwerden, findet deren Parteichef. Transparenz und Klarheit sei die Bringschuld der ÖVP – dazu würde aber auch gehören "klar aufzuzeigen, wo Menschen auch zu Unrecht beschuldigt sind".
Partei im Strudel
Der ÖVP-Chef will aber nicht den Eindruck erwecken, "dass ich irgendwas vom Tisch wische". Die Chats würden Personen zeigen, "die schreiben in einer Art und Weise, das ist ja wirklich unfassbar". Er wehre sich aber dagegen, seine gesamte Partei in einen Topf zu werfen. Einfacher wäre es, sich in eine Ecke zu stellen und zu sagen: "Da, da, da sind die Schuldigen", so Nehammer, "aber das Leben ist nicht schwarz und weiß."
"Wahnsinn, was geht da gerade ab?"
Die persönlich größte Krise des Kanzlers ist aber nicht die Situation seiner Partei, sondern die Erkenntnis, "dass wir multiple Krisen gerade haben". Egal ob Energiekosten, Inflation oder Ukraine-Krieg – all das seien Dinge, wo er auch als Kanzler sage: "Wow, Wahnsinn, was geht da gerade ab?" Ihm helfe dabei ein Stück weit seine militärische Ausbildung, um rasch die Herkunft der Krise zu orten und dann geordnet zu bekämpfen.
Es gebe "unglaublich vieles, was man noch mehr wissen muss, um gute Entscheidungen zu treffen". Nehammers Vater hatte während dessen Pubertät oft gesagt: "Nimm dich nicht so wichtig" – und immer wieder recht gehabt. Daraus habe er gelernt, sich selbst zu hinterfragen, so Nehammer. Daher wolle er auch weiterhin ein "lernender Kanzler" sein. Diese Neugier nicht zu verlieren, sei aktuell sein höchster Anspruch an sich selbst.
"Wir sind im 21. Jahrhundert"
Dass seine Gattin Katharina Nehammer ohne Funktion ebenfalls in Meetings sitzt, findet der Kanzler nicht unpassend. Es gehe nicht um eine Sonderstellung, sondern "ich habe die Chance, dass ich eine Ehefrau habe, die viel berufliche Erfahrung hat in dem Bereich". Die Diskussion darüber finde er spannend: "Wir sind im 21. Jahrhundert und wir sind überrascht, dass ein Ehemann auch auf seine Ehefrau hört."
Seit ungefähr eineinhalb Monaten hat der Kanzler auch wieder einen Freizeit-Rhytmus gefunden und boxt wieder mehr. "In diesen Momenten denke ich wieder ans körperliche Überleben und nicht an komplexe Sachverhalte." Wie sehr Nehammer seine sportliche Erholung genießt, zeigt auch sein Musikgeschmack: Gleich als erstes Lied ließ er den Rocky-Soundtrack "Eye of the Tiger" von "Survivor" abspielen.
Schlechte Note für das Corona-Management
Einstecken musste der Kanzler auch bei seiner "Benotung" durch Expertinnen und Experten. Umweltmediziner Hans-Peter Hutter gab Nehammers Pandemie-Politik etwa "leider ein 'Nicht genügend'": "Niemand konnte die Entscheidungen nachvollziehen", so Hutter: Ein politisches Zickzack untergrabe die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen der Bevölkerung.
"Ich glaube, dass das die Menschen auch so sehen", stimmte der Kanzler seiner schlechten Benotung zu. Die Herausforderung für die Politik sei aber, dass Entscheidungsprozesse in einer Demokratie "einfach ihre Zeit brauchen". Expertise könne sich rasch verändern, "die politische Erzählung ist dann sehr schnell auch Zickzack".
"Profil"-Chefredakteur Christian Rainer zeigte sich großzügiger: Trotz Mutlosigkeit bei Neutralität und Impfpflicht und Übermut bei dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sei die politische Arbeit Nehammers "Befriedigend". Österreich habe eine gute Tradition in der Neutralität, verteidigte der Kanzler seine Position. Ein "Sehr gut" erhielt der Kanzler nur vom Ö3-Callboy Gernot Kulis, denn "niemand ist so gut zu parodieren wie er".
Maximilian Miller