"So viele in einem Raum heißt auch: So viele Viren – aber jetzt kümmert uns das nicht mehr", mit diesen Worten eröffnet Bundeskanzler Karl Nehammer den 40. außerordentlichen Bundesparteitag der ÖVP in Graz, bei dem er sich offiziell zum ÖVP-Chef küren lässt.
Sein Platz ist in der ersten Reihe, daneben nimmt seine Gattin Katharina Nehammer Platz.
Dahinter sind Plätze für Erwin Pröll und Andreas Khol reserviert, in der dritten Reihe für Sebastian Kurz und Wolfgang Schüssel. Gekommen sind alle ehemaligen Bundesparteiobleute – außer Reinhold Mitterlehner. Er teilte medial ohne Angabe von Gründen mit, nicht nach Graz zu kommen – es darf aber davon ausgegangen werden, dass dies durchaus mit dem schlechten Verhältnis zu Kurz zu tun hat.
Vor der Grazer Helmut-List-Halle herrscht am Samstag aufgeheizte Stimmung. Tierschützer protestieren lautstark gegen Vollspaltböden, die ÖVP beschallt den Vorplatz mit Musik, das Polizeiaufgebot ist enorm. Wer in die Halle kommt, muss eine ähnlich strenge Sicherheitskontrolle wie am Flughafen durchlaufen.
Nehammers Vorgänger Sebastian Kurz kommt mit großen Teilen seines ehemaligen Teams. Der Konflikt mit Sebastian Kurz werde von den Medien „hinaufgeschrieben“, sagt Ex-Nationalratspräsident Andreas Khol kurz vor Veranstaltungsbeginn zur Kleinen Zeitung. Kurz sei es hoch anzurechnen, dass er bisher „keinen einzigen Ratschlag“ an die Nachfolger erteilt habe.
„Nehammer muss uns heute sagen, wohin die Reise geht“, umreißt Khol die Erwartungen der rund 1000 Gäste – wovon nur etwa die Hälfte Delegierte sind: „Ich hoffe, dass seine Rede über das übliche ‚Leistung-Familie-Chancengleichheit‘ hinausweist. Wenn es ihm gelingt, die Menschen zu begeistern, dann haben wir zumindest eine Chance.“
Nehammer: "Freut mich, dass Kurz da ist"
„Es freut mich sehr, dass auch Sebastian Kurz da ist“, sagt auch Karl Nehammer zur Kleinen Zeitung, als er eintrifft. „Ich habe ihn selbst eingeladen. Das ist ein schöner Übergang.“ Außerdem sei es erfreulich, dass auch Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel in Graz dabei sei.
Als Gastgeber begrüßt Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer: "Mit Karl Nehammer sind wir in der Realität des Lebens angekommen", sagt er. Die Stimmung, die sehr gut sei, müsse man jetzt auch in Stimmen umwandeln.
Ex-VP-Chef Wilhelm Molterer feiert just heute seinen 67. Geburtstag und wird dementsprechend freundlich begrüßt. Er hat für den Parteitag extra seinen Urlaub im südsteirischen Sulzberg (Ratsch an der Weinstraße) unterbrochen. „Ich bin in Pension und mache nur mehr, was mir Spaß macht“, so Molterer, der sich im slowakischen Thinktank Globsec engagiert.
Pünktlich mit Start des Parteitags verändert sich übrigens das Social-Media-Design der Volkspartei. Am Vormittag war noch das alte Logo platziert, ab 13:30 Uhr waren die Veränderungen in der Volkspartei auch digital sichtbar.
Alt-Kanzler Wolfgang Schüssel, der gemeinsam mit Sebastian Kurz zum Interview auf die Bühne gebeten wird, gibt Nehammer Mut mit. Um den ersten Platz zu verteidigen, brauche es "starke Nerven, starke Familien und ein kampffähiges Team". Und zwar nicht nur Mitstreiter, die hinter einem stehen, sondern auch "Prätorianer, die rund um dich stehen, wenn es ernst wird". Schüssel gibt sich zuversichtlich: "Wann, wenn nicht jetzt, ist eine Volkspartei gefragt, die den Freiheitsbegriff hochhält?"
Betont unpolitisch ist das Gespräch mit Sebastian Kurz, der seine Obmannschaft nun ganz offiziell an Karl Nehammer übergibt. "Dir ist viel gelungen", leitete der Moderator über: Was dir am besten gelungen ist, ist jetzt ein halbes Jahr alt und heißt Konstantin." Kurz wiegt den Kopf, erzählt von seinem neuen Job, der ihn an mindestens 20 Tagen im Monat ins Ausland bringt, von den Strapazen des Reisens mit Baby, von schlaflosen Nächten. Tipps möchte er Karl Nehammer keine geben: "Ich wünsche ihm, dass er bleibt, wie er ist."
Einen Tipp hat Kurz Nehammer aber doch gegeben, wie der Bundeskanzler auf der Bühne erzählt: Vorab habe er ihn per SMS darauf vorbereitet, wie besonders das Gefühl sein werde, wenn er erst auf der Bühne stehe. "Es ist tatsächlich ein Privileg", sagt er.
Nehammer kündigt Transformationsfonds an
In seiner Rede thematisiert er, dass die ÖVP gerade Gegenwind spüre: "Aber der Wind kann sich drehen und zum Rückenwind werden", sagt er. Veränderung berge auch Chancen, argumentiert er und lobt die Regierungsumbildung, die er vergangene Woche nicht ganz freiwillig durchführen musste.
Kommentar
Auch zu den Korruptionsvorwürfen, mit denen die ÖVP konfrontiert ist, nimmt Nehammer Stellung: Die "Anzeigenpolitik" müsse aufhören – aber es brauche auch einen systemischen Ansatz, um Korruption zu bekämpfen: "Und zwar in allen Parteien. Korruption ist ein gesellschaftliches Thema, das wir ernsthaft angehen müssen – aber nicht parteipolitisch." Er kündigt ein Medientransparenzgesetz an, verweist auf das Parteienfinanzierungsgesetz (für das es noch der Zustimmung der SPÖ bedarf), und das Informationsfreiheitsgesetz (das noch nicht beschlossen ist): "Wir sperren uns nicht gegen Informationsfreiheit", sagt er: "Aber, wir sind auch die Partei der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Ja zu Transparenz, aber auch: Ja zu einer funktionierenden Verwaltung, die nicht von Querulanten lahmgelegt werden kann."
"Der Krieg zeigt uns, wie verletzlich wir sind", sagt Nehammer mit Blick auf die Ukraine. Er bekräftigt die versprochenen Investitionen ins Bundesheer. "Für unseren Koalitionspartner ist das ein Paradigmenwechsel, aber er geht den Weg der Verhandlungen konstruktiv mit", sagt er.
Auch bei der Versorgungssicherheit mit Energie attestiert er der Koalition eine sehr gute Zusammenarbeit. Man arbeite mit Hochdruck an der Bevorratung. Nehammer kündigt außerdem einen "Milliardenfonds" an, um die Transformation zu unterstützen: "Da geht es um Ölheizungen, Gasthermen und darum, wie die Industrie begleitet werden kann, fossile Energie weniger zu brauchen." Das müsse kontrolliert passieren, um Arbeit und Wirtschaft zu vermehren und nicht zu reduzieren.
"Asylsystem bedroht innere Sicherheit"
Die unmittelbaren Auswirkungen des Krieges auf Preise – ob bei Lebensmitteln oder Treibstoff – werde man "lindern, aber nicht verhindern" können. Die Bauernschaft soll mit einem weiteren Paket gegen die Teuerung unterstützt werden. Unternehmen sollen dabei unterstützt werden, Arbeitskräfte zu finden – durch eine Qualifikationsoffensive und die vereinfachte Möglichkeit, Facharbeiter aus dem Ausland nach Österreich zu holen.
"Nachbarschaft und gelebte Solidarität ist Menschenpflicht", sagt Nehammer. Er werde aber nicht dulden, dass es "mit irregulärer Migration verwechselt wird". Auf europäischer Ebene werde er dafür kämpfen, dass das Asylsystem verändert wird: "Es braucht ein Asylsystem, für das der soziale Frieden im eigenen Land an erster Stelle steht." Das sei nicht nur eine Frage der Migration und Integration, sondern eine "Sicherheitsfrage."
Nach seiner verbalen Tour durch die mannigfaltigen Krisen der Gegenwart schlussfolgert Nehammer: "Wir brauchen Beständigkeit in einer unbeständigen Welt. Wer, wenn nicht wir, soll diese Herausforderungen lösen und den Menschen Sicherheit geben?" Mit diesen Worten stellt sich Nehammer zur Wahl.
Kurz nach fünf wird das Ergebnis verkündet: Mit 100 Prozent wird Karl Nehammer zum nächsten ÖVP-Chef gewählt. Abgegeben wurden 524 Stimmen, alle waren gültig.