Sie werden am Samstag beim Parteitag zum ÖVP-Chef gewählt. Halten Sie dort die wichtigste Rede Ihres Lebens?
KARL NEHAMMER: Ich bin mit Superlativen vorsichtig geworden. Die wichtigste Rede, die ich als Kanzler bisher gehalten habe, war die in Mauthausen in Gegenwart von Israels Außenminister Lapid, wo es um die Ermordung seines Großvaters gegangen ist.
Wie wollen Sie Aufbruchstimmung erzeugen? Wie wollen Sie es inhaltlich anlegen?
Das Themenspektrum ist breit. Selbstverständlich wird sich ein wichtiger Teil meiner Rede an die Partei, ihre Funktionäre und Mitglieder richten. Die Volkspartei befindet sich in einer schwierigen Phase. Es geht auch darum, dass wir das Vertrauen zurück erarbeiten, das ein Stück weit verloren gegangen ist. Im anderen Teil geht es um die großen Themen, die jeden und jede in unserem Land beschäftigen: Krise, Krieg, Pandemie, Energiekosten, Teuerung. In meiner politischen Agenda gehe ich immer vom Lebensbogen des Menschen aus, von der Geburt beginnend bis zum Altwerden. Erst heute haben wir eine substantielle Pflegereform angekündigt, die wir nun umsetzen werden.
Wo wollen Sie inhaltlich ansetzen?
Es wäre respektlos gegenüber den Funktionären, die mich wählen, wenn ich das jetzt schon öffentlich verrate.
Sie haben mit der Idee, Gewinne von börsennotierten Energieunternehmen abzuschöpfen, von Verwirrung gesorgt?
Ich sehe die Verwirrung nicht. Wen habe ich verwirrt?
Der Aktienkurs des Verbunds ist eingebrochen.
Ich sehe die Debatte ein Stück weit anders. Wir erleben eine der heftigsten Krisen in der Zweiten Republik. In einer Zeit, wo die Energiekosten explodieren, gleichzeitig Energieunternehmen hohe Gewinnen einfahren, gibt es keine Denkverbote. Das sind reale Probleme der Menschen, die sich den Strom nicht mehr leisten können. Wir stehen vor der Herausforderung, dass es in Österreich keine Gruppe gibt, die nicht beim Finanzminister Schlange steht, um Kompensation und Hilfen zu erhalten.
Sie rücken von der Idee nicht ab?
Ich sehe nicht ein, warum ich abrücken soll. Ich versteife mich nicht auf ein konkretes Modell, sondern habe den Finanzminister beauftragt, Vorschläge auszuarbeiten. Das Thema beschäftigt alle europäischen Regierungen. Wenn es verboten ist, in einer Demokratie über unterschiedlichste Modelle nachzudenken, haben wir bald überhaupt keine Handlungsspielräume mehr.
Es verbietet Ihnen ja niemand. Aber Ihr Vorstoß hat ziemliche Wellen geschlagen.
Wenn ich mich davor fürchte, dass irgendetwas Wellen schlägt, gibt es keinen Diskussionsprozess mehr. Eine solche Krise hat es noch nie gegeben, da funktionieren herkömmliche Schubladen-Denkansätze nicht mehr.
Sie sagen, es darf keine Denkverbote geben. Gilt das auch für Vermögenssteuern?
Steuererhöhungen sind nicht das probate Mittel, um Krisen zu bewältigen.
Und eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel?
Auch da darf es kein Denkverbot geben, der Vizekanzler hat das ins Spiel gebracht. Die Frage ist, wem helfe ich damit? Helfe ich den Einkommensschwachen? Wer garantiert, dass es an den Konsumenten weitergegeben wird? Ich bin ein Freund von konkreter Unterstützung für jene, die es brauchen.
Österreich kommt seit Corona aus dem Geldausgeben nicht mehr heraus. Sehen Sie auch irgendwo Einsparungspotenzial?
Wir können die Teuerung nicht gänzlich verhindern, wir können nur ihre Folgen mindern. Die Teuerung ist spürbar und sichtbar. Wir müssen den Menschen mit der Wahrheit auch klar begegnen. Inflation heißt auch Wertverlust. Gegen diese Folgen kämpfen wir.
Der Finanzminister hat vorgeschlagen, 2023 die kalte Progression abzuschaffen. Sind Sie auch dafür?
Das ist eine gemeinsame Idee. Wir haben noch eine schwierige Situation, die Herbstlohnrunde, vor uns. Die muss für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen gut ausgehen, denn es hat niemand etwas davon, wenn Abschlüsse erzielt werden, die die Arbeitsplätze gefährden. Wir müssen darauf schauen, dass die Menschen mehr Geld zur Verfügung haben, aber nicht gleichzeitig die Inflationsspirale weiter in die Höhe getrieben wird. Das ist ein komplexes Miteinander.
Finnland und Schweden treten der Nato bei, in Österreich wird mit dem Hinweis auf die Neutralität die Debatte im Keim erstickt. Warum haben Sie die Debatte für beendet erklärt?
Ich habe sie für mich für beendet erklärt. Ich kann niemandem das Diskutieren verbieten, wo sind wir denn? Sicherheitspolitik ist Neutralitätspolitik. Wenn Sie sich mit unserem EU-Beitritt auseinandersetzen, werden Sie feststellen, wie sehr sich die Neutralität verändert hat. Wir tragen alle Sanktionen mit, sind innerhalb der EU solidarisch, bieten unsere Vermittlerrolle an, wir gehören aber keinem Verteidigungsbündnis an. Schweden und Finnland haben eine gemeinsame Grenze mit Russland.
Sie sagen, die Neutralität nützt uns. Schützt sie uns aber auch?
Wenn es um einen Aggressor geht, ist der Neutrale verpflichtet, sich selbst zu schützen. Das tun wir, indem wir das Budget des Heeres massiv anheben. Unser Vorteil ist, dass wir in einer europäischen Sicherheitsarchitektur leben, die auch eine militärische Komponente besitzt.
Dass die Finnen der Nato beitreten, ist ein Indiz, dass eine EU-Armee keine ernsthafte Idee ist?
Österreich würde sich auch gegen eine europäische Armee aussprechen, weil die EU in ihren Strukturen nicht so gestaltet ist, dass der Einsatz einer Armee vorstellbar ist.
Was haben Sie bisher getan, um die Abhängigkeit vom russischen Gas zu reduzieren?
Es gibt einen Mehrstufenplan mit der Energieministerin, das macht der Bundeskanzler nicht allein. Wir schauen, wo wir woanders Gasmengen kaufen können. Derzeit füllen sich die Speicher konstant. Wir werden erstmals eine staatliche strategische Reserve anlegen. Dann sind wir auch Eigentümer von Gas. Da müssen wir Vorsorge treffen, dass alle Unternehmen die Speicher auffüllen. Wir schauen klar und entschlossen auch auf den riesigen Speicher von Gazprom in Haidach. Wenn dieser nicht gefüllt wird, überlegen wir uns Maßnahmen, damit er gefüllt werden muss.
Wollen Sie den Gazprom-Speicher verstaatlichen, wie in Deutschland?
Nein, es gibt andere Möglichkeit, um auf den Speicher zuzugreifen. Das heißt „use it or lose it“. Wenn du ihn benutzt, ist alles okay, wenn du ihn nicht benutzt, können andere Firmen darauf zugreifen. Haidach ist strategisch wichtig für Deutschland, aber auch für westliche Bundesländer in Österreich.
Wie lange geben Sie Gazprom Zeit, um den Speicher zu füllen?
Wir schaffen jetzt den rechtlichen Rahmen. Gazprom merkt den Druck jetzt schon. Wir gehen das entschlossen an. Wenn er nicht gefüllt wird, sollen ihn andere Energieunternehmen nutzen.
In Vorarlberg gab es Turbulenzen wegen der Inserate beim Wirtschaftsbund. Können Sie ausschließen, dass in einem anderen Bundesland, bei einem Bund eine Zeitbombe tickt?
Die Fokussierung auf die ÖVP ist falsch. Alle Parteien, auch die SPÖ, stehen vor einer großen Herausforderung. Es ist ein Gebot der Stunde, dass die ÖVP in der Frage der Transparenz, bei der Parteienfinanzierung, auch der Medientransparenz mit gutem Beispiel vorangeht.
Wie fremdbestimmt waren Sie bei der letzten Personalrochade?
Das einzig Fremdbestimmte, was ich erlebt habe, war der Zeitfaktor. Als ich Parteiobmann geworden bin, war es für mich klar, dass ich diese Miniseeraumstruktur verändern möchte. Der Rücktritt der beiden Ministerinnen war die Möglichkeit für personelle, aber auch strukturelle Veränderungen der Zuständigkeiten.
Erlebt die Bünde- und Länderlogik wieder eine Renaissance?
Norbert Totschnig, der neue Landwirtschaftsminister, ist als Bauernbund-Direktor tief in der Materie drinnen. Er ist ein Top-Mann. Er ist Osttiroler, lebt aber schon lang in Wien? Wird er deswegen zum Wiener? Wie läuft das überhaupt mit der Zuordnung? Bleibe ich ewig das, wo ich geboren worden bin? Das ist eine absurde Diskussion. Wenn jemand von einer Teilorganisation kommt, gilt das als ÖVP-Logik. Dass Global 2000 die Klimaschutzministerin stellt, ist kein Thema. Mir ist egal, ob jemand von einem Bund oder einer NGO kommt. Für mich ist die Qualifikation entscheidend, nichts anderes.
Wird sich die Partei noch vor der nächsten Landtagswahl erfangen?
Das ist eine Spekulationsfrage, aber ich werde alles dafür tun.
Glauben Sie daran?
Natürlich, sonst würde ich die Aufgabe nicht übernehmen.