Um neun Uhr früh kam das Krisenkabinett der Bundesregierung im Verteidigungsministerium in der Rossauer Kaserne zusammen. Anwesend waren Kanzler Karl Nehammer, Vizekanzler Werner Kogler, Außenminister Alexander Schallenberg, Innenminister Gerhard Karner, Verteidigungsministerin Klaudia Tanner, Energieministerin Leonore Gewessler, Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck.
Neben der Beurteilung der aktuellen militärischen Lage in der Ukraine standen die möglichen Auswirkungen auf Österreich, etwa bei den Gaslieferungen oder das Szenario einer Flüchtlingswelle, im Zentrum der Beratungen.
"Im Krieg gibt es immer nur Verlierer"
In seiner Erklärung im Nationalrat unterstrich der Kanzler: "Wir haben wieder Krieg in Europa. Es gibt Krieg in unserer Nachbarschaft. Das haben wir nicht für möglich gehalten." Russland zeige sein gesamtes militärisches Potenzial. Die Ukraine sei Opfer einer Invasion geworden. Russland glaube, die Geschichte revidieren zu müssen. Bedauerlich sei, dass man nicht in der Lage sei, aus der Geschichte zu lernen, und Konflikte auf dem Verhandlungstisch löst. "Im Krieg gibt es immer nur Verlierer."
"Russland ist ein Land, dem wir zu verdanken haben, dass wir vom Nazi-Terror befreit worden sind. Russland wählt einen Weg, den wir zu tief ablehnen. Es muss die Stärke des Rechts gelten, nicht das Recht des Stärkeren." Österreich habe sich die Neutralität ins Stammbuch geschrieben. "Das Völkerrecht ist das Fundament in der Gründung der Zweiten Republik."
"Die österreichische Neutralität war immer eine militärische. Wir haben es nie so verstanden, dass wir uns dahinter verstecken." Österreich bleibe Brückenbauer und Vermittler. Nehammer hob hervor, dass die äußerst heterogene EU "mit einer Stimme" spreche. Die von der OMV mitfinanzierte Gaspipeline North Stream 2 liege auf Eis.
"Ob es schlau war, sich auf russisches Gas zu verlassen?"
Der Kanzler meinte selbstkritisch, man müsse sich die Frage stellen, "ob es so schlau" war, sich auf russisches Gas zu verlassen. Sollte Putin am Gashahn drehen, werde die EU sicherstellen, dass Österreich auf alternative Lieferungen zurückgreifen könne. "Selbst bei einer Null-Lieferung ist Versorgungssicherheit bis in den April garantiert sein. Keine Wohnung wird kalt sein."
Das Innenministerium habe Vorsorge getroffen, sollten auch Österreich von einer Flüchtlingswelle erfasst sein. "Die Ukraine ist ein europäisches Land. Die Ukraine ist näher von Wien entfernt als Vorarlberg. Nachbarschaftshilfe ist eine Selbstverständlichkeit", so Nehammer, um zu verdeutlichen, dass die Lage eine andere sei als bei Afghanistan oder anderen Krisenherden dieser Welt.
Selenskyj bittet Nehammer um Hilfe
Nach einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj meldete sich Kanzler Nehammer zu Mittag erneut zu Wort. Selenskyj habe das Gespräch begonnen zu sagen, er meldet sich aus der Ukraine, einem Land, wo er nicht mehr weiß, wie lange es existiert. "Und er meldet sich als Präsident und er weiß nicht, wie lange er noch lebt", berichtete Nehammer. Selenskyj habe über Angriffe auf zivile Infrastruktur und viele Tote berichtet und "Europa und die Welt ersucht, der Ukraine beizustehen".
Der Bundeskanzler betonte gegenüber dem ukrainischen Präsidenten: "Die Ukraine und das ukrainische Volk können sich auf uns verlassen. Wir werden immer und überall, wo wir können, Hilfe leisten". Beim heutigen Sondergipfel der EU- Staats- und Regierungschefs würden zusätzliche, harte Sanktionen gegen Russland verhängt und weitere Unterstützungsleistungen für die Ukraine vereinbart werden.
Österreich sei tatsächlich ein neutrales Land, angesichts des Schicksals Hunderttausender Menschen könne Österreich aber nicht wegschauen, sagt der Kanzler. Es müsse "uns bewusst sein, dass tatsächlich die Ukraine, die dortige Regierung, die Menschen um ihr Überleben kämpfen", erklärte Nehammer im Plenum.
Österreich nimmt Flüchtlinge auf
Am Vorabend des Einmarsches Russlands der Ukraine hatte Nehammer in der ZiB2 bereits deutlich gemacht, dass Österreich grundsätzlich bereit ist, Flüchtlinge aus der Ukraine aufzunehmen. "Die Ukraine ist nicht mit Afghanistan zu vergleichen." Die Ukraine sei entfernungsmäßig von Wien gleich weit entfernt wie Vorarlberg (von Wien) und zähle deshalb zur Nachbarschaft. Österreich sei zwar "nicht Zielland", das sei auch bereits 2014 nicht der Fall gewesen.
Wenn ein Land in Österreichs Nachbarschaft bedroht sei, gelte es, "solidarisch zu handeln. Wenn es notwendig ist, werden wir helfen". 2014 hatten sich 1,5 Millionen Ukrainer auf den Weg gemacht, nachdem Putin die Krim annektiert und Teile der Ostukraine okkupiert hatte. Damals suchten nur einige Hundert Ukrainer um Asyl in Österreich an.
"Keine teilnahmslose Neutralität"
Vizekanzler Werner Kogler meinte in seiner Ansprache: "Der 24. Februar wird die Geschichte Europas verändern. Es ist kein guter Tag." Der Chef der Grünen ging dann ausdrücklich auf die österreichische Neutralität ein. "Neutralität kann nicht bedeuten, einem Aggressionskrieg tatenlos zuzusehen. Unsere Neutralität ist keine teilnahmslose." Und: "Zuschauen, wie eine militärische Großmacht den Nachbarn überfällt, gehört nicht zur Neutralität."
"Was sich seit einigen Stunden in der Ukraine abspielt, betrifft uns alle", sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Österreichs Neutralität sei unumstößlich, doch das "darf nicht Gleichgültigkeit gegenüber einem eklatanten Bruch des Völkerrechts heißen", sagte die rote Parteivorsitzende. Europa müsse nun eine klare Antwort geben und weitere Sanktionen gegen Russland verhängen. Gleichzeitig müsse alles getan werden, um so schnell wie möglich "zum Dialog zurückzukehren und diesen Krieg zu stoppen".
Die FPÖ stimmte als einzige Partei im Nationalrat nicht mit Sanktionen gegen Russland. Zwar sei der russische Einmarsch "in keinster Weise zu rechtfertigen", sagte FPÖ-Chef Herbert Kickl, doch der Konflikt sei "komplex und multidimensional". Ursachenforschung müsse man daher auf beiden Seiten betreiben, sagt Kickl. Sanktionen gegen Russland seien eine "Völkerrechtsverletzung", sagt Kickl – obwohl dies von der derzeitigen Auslegung der österreichischen Neutralität nicht gedeckt ist.
Die politische Ordnung Europas seit dem Fall des Eisernen Vorhangs habe Putin nun vom Tisch gewischt, sagt Neos-Obfrau Beate Meinl-Reisinger. Es sei "geradezu naiv, zu glauben, dass es da noch einen Weg zurück gibt". Putin habe "der Ukraine nichts anderes als das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen". Der Angriff Putins sei ein Angriff auf die gesamte westliche Welt, sagt die pinke Parteichefin, es gehe um die Sicherheit Europas – und damit die Sicherheit Österreichs. In dieser Frage gäbe es daher keine Neutralität, sagt Meinl-Reisinger: "Österreich als Teil der Europäischen Union muss hier klar Seite beziehen, sonst hat Putins Totalitarismus und Aggressionskrieg schon gewonnen."