ARMIN THURNHER: Was für ein Jahr! Wohl keines, das irgendwer in guter Erinnerung behalten wird. Das erste volle Pandemie-Jahr. Dennoch fallen mir als Erstes die Bilder vom Kapitol in Washington zu ihm ein. Der Gehörnte, der triumphierend posiert, nachdem er die Polizeisperren überwunden hat. Drinnen Abgeordnete, die sich vor dem Mob verstecken. Draußen ein Präsident Trump, der vielleicht sogar selbst die Lüge glaubt, er habe die Wahl nicht verloren. Eine Ansicht des Bündnisses von Irrationalismus und Macht, wie wir es in dieser plumpen Direktheit schon des längeren nicht mehr gesehen haben.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Ich glaube überhaupt, dass gerade die Zahl derer, die man als „ehrliche Lügner“ bezeichnen könnte, immer größer wird: Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen so sehr unter Druck sind, dass sie Dinge, von denen sie mit etwas Abstand wissen könnten und auch würden, dass sie nicht den Tatsachen entsprechen, in dem Moment für wahr halten, weil sie die Situation, in der sie sind, anders nicht ertragen könnten. Dieser Abstand aber fehlt uns allen, die Pandemie und wie wir mit ihr umgegangen sind, hat uns an die Weltwand gefahren.
THURNHER: Da sind wir uns wohl einig. Die Verzweiflung darüber, nicht mehr zu wissen, was Wahrheit ist, die ist wohl in diesem Jahr über uns hereingebrochen. Und die Pandemie hat dazu beigetragen. Auch das Manichäertum, dem ich mitunter fälschlicherweise zugerechnet werde, erlebt eine Renaissance. Zum Beispiel finde ich es doch stark übertrieben, den Ex-Kanzler Kurz nach dem Abgang unter die Top Five der korrupten Regierungschefs zu reihen. Dem wurde in Österreich nicht gerade vehement widersprochen, was mich doch erstaunte.
FLEISCHHACKER: Wahrscheinlich haben wir alle unsere manichäischen Druckpunkte, die uns unsere intellektuelle Kinderstube vergessen lassen und zu Aktivisten der vermeintlich guten Sache machen. Ich könnte mir vorstellen, dass das sogar bei Ihnen so ist, lieber Thurnher. Dass dem Aufblasen des sogenannten „Systems Kurz“ auf globales Verbrecherniveau von Erdoganscher Dimension nicht widersprochen wurde, muss einen aber wohl doch nicht erstaunen. Die, die ihn schon immer für eine Plage hielten, hatten schon das Maß verloren, als er noch im Amt war. Und die, die ihn feierten, schlucken in ihrem Kater jeden Teufelsroller, der ihnen vor die Nase gehalten wird.
THURNHER: Dagegen muss ich mich nicht einmal wehren, denn ich darf für mich in Anspruch nehmen, ihn schon durchschaut zu haben, ehe er auch nur Außenminister wurde. Dass er eine Plage war, dabei bleibe ich, aber das wird uns nicht den Jahresrückblick zukleistern. Wobei sein Abgang schon in die Bilanz gehört, auch wegen des „Hosianna“ des Parteitags und des – nicht begeistert gebrüllten, aber recht effizient umgesetzten – „Kreuziget ihn“ wenig später. Um die Plage zu illustrieren, kann man die Chat-Protokolle des Thomas Schmid nennen, auch sie gehören zur Bilanz der Kurz-Jahre und auch dieses Jahres.
FLEISCHHACKER: Ja, was wir da gesehen haben, war wirklich nicht schön, aber ich denke, wenn wir unsere geistigen Siebensachen und unsere Lebenserfahrung zusammennehmen, werden wir um die Tatsache nicht herumkommen, dass das System Kurz sich von anderen Systemen wie etwa dem System Faymann oder dem System Pröll in exakt zwei Dingen unterscheidet: Erstens gab es WhatsApp noch nicht, und zweitens gab es WhatsApp noch nicht. Was mich zudem nach wie vor ein bisschen beunruhigt, ist die Tatsache, dass ich mich in Österreich nicht mehr auf den rechtsstaatlichen Grundsatz verlassen kann, dass die Strafverfolgungsbehörden Material, das sie bei mir sicherstellen, nur dann verwenden dürfen, wenn es im Zusammenhang mit den Vorwürfen steht, aufgrund derer das Material sichergestellt wurde. Natürlich ist es gut, wenn Missstände aufgedeckt werden, aber es wäre auch gut, wenn das ohne die Verbiegung rechtsstaatlicher Grundsätze vonstattenginge.
THURNHER: Darauf lasse ich mich jetzt nicht ein, denn das lenkt nur ab. Das System Kurz hatte uns im Unterschied zu anderen doch versprochen, ein ganz anderes zu sein, hatte es nicht? Was uns zum Wahrheitsproblem des Anfangs zurückbrächte. Ich denke aber, wir sollten dem Jahr doch mehr Gerechtigkeit zu tun versuchen. Zwar war das oberste Ziel, dass „die Wintersaison stattfindet“ (Ministerin Köstinger), während andere dachten, das oberste Ziel bestünde darin, der Pandemie Herr zu werden, aber in globaler Hinsicht konnten wir in Afghanistan doch eine welthistorische Wende erleben: Die USA gaben ihren Führungsanspruch zwar nicht ab, definierten ihn aber neu.
FLEISCHHACKER: Jedes System verspricht, ganz anders zu sein, und kaum eines ist es dann. Was Biden in Afghanistan gemacht hat, ist der letzte Schritt in einem Prozess, den bereits Obama eingeleitet hat. Und die Vereinigten Staaten haben es, wie jeder mächtige Spieler, besonders schwer: Entweder werden sie als Imperialisten bekämpft oder als Isolationisten verlacht. Nach dem schmachvollen Rückzug aus Afghanistan haben viele Experten gemeint, es werde jetzt sehr lange keine amerikanische Militär-Intervention mehr geben, aber ich glaube, dass die Weltpolitik nicht sehr viel anders ist als die Pandemiepolitik: Die Modellierer unterschätzen die Eigendynamik der Wellen.
THURNHER: Das Schöne oder Schreckliche an der Geschichte, es kommt immer anders, als man denkt. Deswegen kommen weder die chinesische Weltherrschaft noch der Zerfall der EU mit Sicherheit; aber die globale Konstellation ist neu. Während China autoritär die Zunahme des Vermögens der Superreichen zu regulieren versucht, werden sie im Westen ungebremst immer reicher, auch und gerade in der Pandemie. Wir erlebten zwar eine Renaissance staatlichen Handelns, weil das die Seuche erforderte, aber zugleich ein unermessliches Wachstum privater Vermögen – Oligarchisierung scheint mir eine logische Folge davon zu sein. Keine guten Nachrichten für die Demokratie.
FLEISCHHACKER: Mein demokratiepolitischer Optimismus hält sich auch in Grenzen, allerdings scheint sie mir von Oligarchen, denen es am Ende doch mehr um ihr Geld als um ihre Macht geht, weniger stark bedroht zu sein als von Politikern, die auf den Geschmack des Durchregierens gekommen sind. Was mich also am meisten beunruhigt an diesem Jahr, ist, wie schnell Bürger aus Angst zu Untertanen werden. Und wie umfassend es den öffentlichen Advokaten des Kollektivismus gelungen ist, jeden, der von Freiheit spricht, als Egoisten zu denunzieren, der über Leichen geht.
THURNHER: Da würden wir ein neues Fass aufmachen (oder das alte Wahrheitsfass), aber die Debatte darüber, wo Freiheit endet und Verpflichtung beginnt, hat im Pandemiejahr eine neue Portion Verantwortungslosigkeit dazubekommen. Einigen können wir uns gewiss auf eines: Es war kein besonders gutes Jahr.
FLEISCHHACKER: Ich glaube, es ist ganz einfach. Die Freiheit endet dort, wo der Zwang beginnt. Aber Sie haben recht, dieses Fass wollen wir 2021 nicht mehr aufmachen. Hoffen wir, dass 2022 besser wird.