Sie sind jetzt wieder ins Kreisky-Zimmer übersiedelt. Warum eigentlich? Weil Kreisky oder weil Kurz hier gesessen sind?
KARL NEHAMMER. Es ist ein Raum der Republik, errichtet nach dem Zweiten Weltkrieg, nach schweren Bombentreffern. Ein Ausdruck der wieder erstarkten Republik. Und es saß nicht nur Bruno Kreisky hier, sondern auch Leopold Figl und Julius Raab und viele mehr.

Sind Sie jetzt ein Türkiser oder ein Schwarzer?
Beides. Ich finde Türkis eine sehr sympathische Farbe. Entscheidend ist, wofür die Neue Volkspartei steht.

Werden Sie die ÖVP wieder auf Schwarz umfärben?
Ich glaube, dass die ÖVP sich selbst nie verloren hat. Entscheidend sind die Werte, die Inhalte. Wir sind wieder Volkspartei. Wir sind programmatisch neu aufgestellt. Das gilt es fortzuentwickeln.

Wer hat Sie gefragt, ob Sie ÖVP-Chef werden wollen? Hatten Sie Ihr persönliches Projekt Ballhausplatz zuvor schon im Kopf?
Nein, das Projekt in meinem Kopf hat es nicht gegeben. Es war Sebastian Kurz, der mich gefragt hat. Emotional war es überwältigend, wenn man so Volkspartei-begeistert ist wie ich. Dann begannen die Gespräche, die notwendig sind, mit den Teilorganisationen, den Landeshauptleuten, wir sind eine sehr heterogene Partei, keine zentralistische Partei im klassischen Sinne. Und als klar war, dass es von großer Einstimmigkeit getragen wird, habe ich es gemacht.

Lassen Sie uns teilhaben an der Ablöse von Heinz Faßmann: Es wurde kolportiert, dass er Ihnen nur aus Höflichkeit seinen Rücktritt angeboten habe, Sie das aber sofort angenommen hätten, weil die Steirer einen Minister in Wien wollten.
Ich habe mit allen Ministern gesprochen, ob und wie sie sich die Zusammenarbeit mit mir vorstellen können. Und Heinz Faßmann hat gesagt, wenn ich Bundesparteiobmann werde, dann stellt er mir frei, weil er jetzt auch schon lange gedient hat, dass ich darüber verfügen kann, ob er bleibt oder nicht. In der Parallelität hat sich eine Option angeboten mit dem Uni-Rektor von Graz, Martin Polaschek. Faßmann hat Unglaubliches geleistet, auch in der Pandemie. Ich war ihm für seinen Rat, gerade in Fragen der Integration, immer sehr dankbar.

Haben Sie Polaschek überhaupt gekannt?
Ja.

In Ihren ersten Erklärungen fiel ein neuer Stil auf. Schallenberg war konfrontativ gegenüber der Opposition, den Ungeimpften, Sie haben Appelle an die Ungeimpften gerichtet, auch die Opposition eingebunden. War das Absicht?
Was ich sage, meine ich auch so. Ich möchte inklusiv sein und nicht exklusiv. Man muss die Strategie im Kampf gegen das Virus immer anpassen. Sind wir auf dem richtigen Weg? Oder müssen wir nachjustieren? Instrumentalisiert von einer Parlamentspartei ist ein Szenario „Die einen gegen die anderen“ eingetreten. Das ist der falsche Weg. Es gibt einen Feind, das ist das Corona-Virus. Vernichten können wir es nicht, das Virus wird Teil unseres Lebens sein. Wir können gemeinsam dafür sorgen, dass es unsere Freiheit nicht weiter beschränkt. Um das soll es gehen. Die Gruppe, die sich nicht impfen lässt, ist keine homogene Gruppe, sondern eine heterogene. Da gibt es Unsichere, Ängstliche. Für sie gilt das klare Gesprächsangebot: Wenn ihr mir, einem Politiker, nicht glaubt, redet mit eurem Hausarzt. Er oder sie wird euch beraten, was g’scheit ist. Und es gibt auch eine kleine Gruppe, die unterwandert ist von Rechtsextremen und Staatsverweigerern. Da muss man klare Kante zeigen.

Hätte man nicht auf die Impfpflicht verzichten können?
Wir sind alle Lernende in der Pandemie. Zu Beginn haben uns Experten gesagt, wir werden eine Impfung frühestens zum jetzigen Zeitpunkt haben. Mittlerweile reden wir davon, wie wir Menschen zum dritten Stich bringen. Wir haben es mit einem mächtigen Gegner zu tun, der sich immer weiterentwickelt. Wir müssen deshalb immer nachjustieren.

Wie war das Gespräch mit FPÖ-Chef Herbert Kickl?
Mit SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner und Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, die uns bei der Impfpflicht unterstützen, waren die Gespräche sehr konstruktiv. Mit Kickl war das Gespräch, wie Sie es sich wahrscheinlich vorstellen, konfrontativ, klar in der Abgrenzung zueinander. Mir ist wichtig, dass wir den Dialog nicht beenden. Pluralität ist ein Fundament der Demokratie, aber man muss klar benennen, wann Grenzen überschritten werden.

Was ist die größere Herausforderung? Der Kampf gegen das Virus? Oder die Republik zusammenzuhalten?
Ich glaube nicht, dass man das voneinander trennen kann. Das Virus hat uns zu einem gewissen Grad auseinandergetrieben. Es ist ein Paradoxon, das wir auflösen müssen. Aber verwechseln wir nicht Ursache und Wirkung. Die Ursache für die gesellschaftliche Spaltung ist das Virus. Und nicht irgendeine politische Gruppierung.

Können Sie ausschließen, dass es einen fünften Lockdown gibt?
Was uns das Corona-Virus gelehrt hat, ist, dass man nichts ausschließen kann. Die Wissenschaft gibt uns Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Wenn wir eine hohe Impfquote haben, sind wir in einer ganz anderen Situation. Da wir gesehen haben, dass das Virus brandgefährliche Mutationen entwickeln kann, kann ich Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage geben. Wir haben jetzt eine Atempause. Wir öffnen unter größtmöglicher Vorsicht, mit strengen Schutzmaßnahmen. Die FFP2-Maske wird ganz wesentlich bleiben. Die Regeln für Versammlungen und Veranstaltungen werden weiter streng und kontrollierbar sein müssen. Der Sicherheitsgurt muss angelegt bleiben.

Die Grünen haben zuletzt viel durchgesetzt, siehe das Aus für den Lobautunnels, die Einsetzung eines U-Ausschusses, der Kurz- Rücktritt nicht zuletzt auf Druck der Grünen. Wie sehen Sie das?
Eine Koalition ist davon geprägt, dass einmal der eine, dann der andere sichtbarer ist. Die ÖVP ist mit ihren Inhalten im Regierungsprogramm massiv abgebildet. Bei der Steuerreform ist mit der CO2-Bepreisung eine grüne Handschrift sichtbar, die ÖVP wiederum hat sich bei der Entlastung im Umfang von 18 Milliarden durchgesetzt. Wenn beide Partner zufrieden sind, bin ich als Regierungschef zufrieden, denn dann funktioniert die Koalition.

Haben sich die Grünen immer fair verhalten?
Sie haben sich beim Transformationsprozess in der ÖVP sehr fair verhalten. Ich war in enger Abstimmung mit Werner Kogler und Sigrid Maurer. Auch der Bundespräsident hat sich wertschätzend und vertrauensvoll verhalten.

Ist beim Lobautunnel das letzte Wort gesprochen?
Die Ministerin hat ein Projekt abgesagt, aber das Thema ist nicht vom Tisch. Es gibt ein Gesetz, das den Lobautunnel ermöglicht. Die Umsetzung liegt bei Verkehrsministerin Gewessler. Sie muss und wird alternative Lösungsvorschläge auf den Tisch legen, darauf vertraue ich. Diese Verkehrsverbindung ist ja kein Selbstzweck.

Was ist das nächste große Projekt der Regierung?
Wo fange ich an, wo höre ich auf? Da gibt es die ökosoziale Steuerreform, wir müssen. den großen Themenkomplex Pflege angehen. Wir müssen uns der Frage widmen, wie wir Kinder, die Defizite aus dem Lockdown mitgenommen haben, unter die Arme greifen können.

In der Flüchtlingspolitik wollen Sie kein Jota ändern?
So ist es.

Hält die Regierung bis zum Ende?
Ich gehe davon aus, denn in so herausfordernden Zeiten eine Legislaturperiode mutwillig zu beenden, würde von keinem Menschen verstanden werden. Wir haben viel vor, das Vertrauensverhältnis ist ein gutes. Ich sehe keinen Grund.

Die Regierungsumbildung war von einer unerwarteten Dollfuß-Debatte überschattet. Sie haben den Begriff Kanzlerdiktatur, nicht Austrofaschismus verwendet. Warum?
Wir könnten jetzt auch über den Austromarximus reden, wie dieser von Historikern bewertet wird. Dollfuß hat in seiner Zeit die Demokratie beendet und als Kanzlerdiktator weiterregiert. Wir sitzen hier in dem Raum, wo Dollfuß (nach dem Attentat durch Nazi-Putschisten, Anm.) verblutet ist. Für die ÖVP ist der Geschichtsabschnitt klar bewertet, ich sehe keinen Diskussionsbedarf.

Wohin wird Ihre erste Auslandsreise gehen?
Zunächst nach Brüssel zu meinem ersten EU-Gipfel. Danach wäre eine Israel-Reise geplant gewesen, die wird schwierig, weil uns das Virus einen Strich durch die Rechnung macht.

Sie sind Boxer. Haben Sie ein Vorbild als Boxer?
Ich bin tatsächlich einer, der das Boxtraining schätzt und liebt. Es handelt sich um einen ungeheuer vielseitigen Sport. Es geht nicht nur um das Schlagen, sondern vor allem um das Ausweichen und das Einstecken von Schlägen. Das ist eine Analogie zum Leben an sich. Es gibt so viele große Boxer, dass es mir schwerfällt, einen einzigen hervorzuheben. Doch Muhammed Ali war mit Sicherheit einer der größten Schwergewichtsboxer.

Haben Sie ein politisches Vorbild?
Ganz klar: Leopold Figl.


Das Interview wurde gemeinsam mit der Presse und den Salzburger Nachrichten geführt.