Sebastian Kurz zieht sich aus der Politik zurück: "Ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher", so der ÖVP-Chef, -Klubobmann und zweimalige Exkanzler. In den vergangenen Tagen - insbesondere bei der Geburt seines Sohnes - sei ihm bewusst geworden, "wie viel Schönes es auch außerhalb der Politik gibt", sagt Kurz bei seiner Erklärung in der politischen Akademie der Volkspartei.
Sowohl Bundeskanzler Alexander Schallenberg als auch Finanzminister Gernot Blümelstellten noch am gestrigen Abend ihre Ämter zur Verfügung. Blümel geht auch als Chef der Wiener Partei. "Ich habe mich dazu entschieden, die Politik zu verlassen", sagte er in einem via Social Media verbreiteten Videostatement. Er tue dies vor allem für seine Familie, die aufgrund seiner politischen Tätigkeit immer wieder mit Morddrohungen konfrontiert gewesen sei.
Abschied von der Doppelspitze
"Die Entscheidung von Sebastian Kurz ringt mir großen Respekt ab und ich danke ihm für seine Arbeit für unser Land", erklärte Bundeskanzler Alexander Schallenberg am frühen Abend.
"In einer sehr herausfordernden Phase für die Bundesregierung und die Neue Volkspartei habe ich mich bereit erklärt, das Amt des Bundeskanzlers zu übernehmen. Es ist nicht meine Absicht und war nie mein Ziel, die Funktion des Bundesparteiobmanns der Neuen Volkspartei zu übernehmen. Ich bin der festen Ansicht, dass beide Ämter – Regierungschef und Bundesparteiobmann der stimmenstärksten Partei Österreichs – rasch wieder in einer Hand vereint sein sollten."
Er stelle daher sein Amt als Bundeskanzler zur Verfügung, sobald parteiintern die entsprechenden Weichenstellungen vorgenommen wurden.
Der frühere Außenminister war erst am 11. Oktober von Bundespräsident Alexander Van der Bellen als Kanzler angelobt worden - nachdem Kurz im Zusammenhang mit Korruptionsermittlungen gegen ihn und sein Umfeld als Regierungschef zurückgetreten war. Ob er wieder ins Außenministerium zurückkehren möchte, teilte Schallenberg in der schriftlichen Stellungnahme nicht mit.
"Stets mein Bestes gegeben"
Kurz hatte bereits am Vormittag seinen Abschied aus allen Funktionen angekündigt. Die letzten zehn Jahre habe er hundertprozentige Begeisterung an der politischen Arbeit gehabt, das habe sich in den letzten Monaten verändert, sagt Kurz. Sein politischer Alltag sei kein Wettbewerb der besten Ideen mehr gewesen, sondern von Vorwürfen, Anschuldigungen, Unterstellungen und Verfahren geprägt gewesen, sagt Kurz. Das habe seine "eigene Flamme etwas kleiner werden lassen".
Er habe stets sein Bestes gegeben und "alles versucht". In der Spitzenpolitik habe man aber täglich so viele Entscheidungen zu treffen, dass man schon in der Früh wisse, dass auch falsche Entscheidungen dabei sein würden. Man stehe in stetiger Kritik und habe "fast das Gefühl, gejagt zu werden".
Eindrücke der Rückzugs
Der jetzige Rückzug sei ihm nicht leichtgefallen, doch er sei "überzeugt davon, dass es auch in Zukunft eine starke Volkspartei gibt". Für Freitag wird Kurz eine Sitzung des Bundesparteivorstands einberufen und in den nächsten Wochen all seine Funktionen geordnet übergeben.
Beruflich will sich Kurz im neuen Jahr neuen Aufgaben widmen. Zuvor freue er sich aber auf Zeit mit seiner Familie. "Ich werde jetzt aufbrechen und meinen Sohn und meine Freundin aus dem Spital abholen", verabschiedet sich der Ex-Kanzler.
Nehammer könnte nachfolgen
An der ÖVP-Spitze nachfolgen könnte Kurz Innenminister Karl Nehammer. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler oder Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger kommen ebenfalls in Frage. Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) wollte zu Mittag im ORF noch keine Namen nennen. Ein neuer ÖVP-Chef sollte aber auch die Regierung anführen, sagte Stelzer.
Stelzer erwartet aber nicht, dass Bundeskanzler Alexander Schallenberg die ÖVP-Spitze anstrebt, eine Regierungsumbildung wäre daher die Folge. Gleichzeitig mehren sich Gerüchte, dass Finanzminister Gernot Blümel und Wirtschafstministerin Margarete Schramböck abgelöst werden könnten - laut einer Sprecherin Schramböcks stehe das aber "nicht zur Debatte". Der grüne Vizekanzler Werner Kogler betonte, dass die ÖVP selbst über ihr Personal entscheide. Das grüne Regierungsteam bliebe aber jedenfalls gleich.
Rückzug nach Ermittlungen
Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft führt Kurz als Beschuldigten in mehreren Verfahren. Einerseits soll er an einer Verschwörung beteiligt gewesen sein, auf Steuerzahlerkosten gefälschte Umfragen zu seinen Gunsten in der Zeitung "Österreich" platziert zu haben. Außerdem soll er vor dem Ibiza-U-Ausschuss falsch ausgesagt haben, nicht in die Bestellung von Thomas Schmid zum ÖBAG-Chef involviert gewesen zu sein. Kurz bestreitet beide Vorwürfe.
Nach Razzien im Bundeskanzleramt, dem Finanzministerium und der ÖVP-Parteizentrale hatte Kurz erst Anfang Oktober einen "Schritt zur Seite" gemacht und war als Bundeskanzler zurückgetreten. Er blieb aber Parteichef und wurde Klubchef der Volkspartei im Nationalrat.
Steile Karriere als ÖVP-Hoffnungsträger
Kurz kann auf eine steile politische Karriere zurückblicken:
Die ÖVP verliert mit Sebastian Kurz ihren Hoffnungsträger. Bevor Kurz die Volkspartei 2017 übernahm, lag die Partei in Umfragen meist auf dem dritten Platz. Mit Kurz, einer neuen Parteifarbe und klar rechter Politik schaffte man es auf den ersten Platz - und stellte nach der Wahl 2017 mit Kurz auch den Kanzler einer türkis-blauen Regierung.
Nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos platzte die Regierung, die blaue Ministerriege ging. Wenige Tage später sprach der Nationalrat Sebastian Kurz und der gesamten Regierung das Misstrauen aus. Doch auch bei den darauf folgenden Neuwahlen 2019 blieb die ÖVP klar am ersten Platz.
Auch der Vorwurf der Falschaussage vor dem "Ibiza"-Untersuchungsausschuss tat dem wenig ab. Einen Umschwung gab es erst nach den Hausdurchsuchungen in der Inseraten-Affäre. Die ÖVP hielt dennoch an Kurz fest, sein Rücktritt als Kanzler kam durch massiven Druck von Seiten der Länder, des grünen Koalitionspartners und der Opposition zustande - explizit gegen den Willen des türkisen Regierungsteams.
Mitte November wurde aufgrund der Ermittlungen Kurz parlamentarische Immunität aufgehoben. Vor wenigen Tagen war bekannt geworden, dass ein gelöschtes Foto auf dem Handy von Ex-Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) Kurz in der Causa Falschaussage weiter belasten soll. Erst heute wurde der ÖVP-Untersuchungsausschuss im Nationalrat auf Schiene gebracht. Er soll die Amtszeit von Kurz als Kanzler durchleuchten.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Nationalrat verliert Kurz zwar sein monatliches Gehalt als Klubobmann von 15.182 Euro brutto. Da er aber kein weiteres Amt ausüben wird, hätte aber Anspruch auf sechs Monate Gehaltsfortzahlung mit drei Vierteln des Letztgehaltes. Das wären 11.386 Euro brutto im Monat. Ob Kurz eine Fortzahlung beantragen wird, ist nicht bekannt.