Österreichs Position in der aktuellen Flüchtlingsdebatte lautet: Kein ein einziger Afghane zusätzlich darf ins Land. Ist das vertretbar?
GERALD KNAUS: Angesichts der dramatischen Lage im Land, die berechtigte Furcht vieler, verfolgt zu werden, halte ich das für ein extrem problematisches Signal. Österreich hat recht, wenn es sagt, es hat viel geholfen in den letzten zehn Jahren. Wenige haben weltweit so viel getan was die Aufnahme von Flüchtlingen betrifft. Darauf kann Österreich stolz sein, und es ist glaubwürdig, wenn es fordert, andere sollen mehr tun. Aber das Signal innerhalb der aktuellen Rhetorik ist ja: Es war ein Fehler, so zu handeln, und andere sollten diesen Fehler nicht machen, keine "falschen" Signale schicken. Das ist extrem destruktiv.
Ist es legitim, die Zahl der Afghanen in den europäischen Ländern miteinander zu vergleichen?
Ich finde, dieses Aufrechnen ist höchst problematisch. Außerdem geht es jetzt ja konkret nur darum, ein paar Hundert Leute aufzunehmen, die aus Kabul entkommen, in Nachbarländer fliehen konnten, und die bestimmten "Kriterien" entsprechen, also Wissenschaftler, Journalisten, Aktivisten, etc. Da geht es ja nicht um eine hohe Zahl, sondern um eine starke Geste. Genauso "stark" wäre es, Afghanen, die schon bei uns leben, und die in großer Sorge um ihre Angehörigen sind, dabei zu helfen, ihre Frauen und Kinder nachzuholen. Über diese Flüchtlinge gibt es ja auch eine menschliche Verbindung zu dem Land. Es gibt viele hier, die die Krise direkt betrifft, für diese Menschen könnte man eine empathischere Politik machen.
Genau das will die Regierung aber nicht.
'Man muss da schon unterscheiden. Man kann sagen, man will weniger für Flüchtlinge tun als in der Vergangenheit. Eben weil jetzt andere auch etwas tun sollten. Aber jetzt tritt man ja grundsätzlich ein für eine Welt, in der niemand dafür eintreten darf, dass Flüchtlinge aufgenommen werden, weil diese Signale angeblich dazu führen, dass sich große Massen in Bewegung setzen und zu einer Gefahr werden würden. Das hat vor fünf Jahren nur Orban gesagt, später dann Trump, und in Deutschland die AFD.
Besteht nicht doch die Gefahr, dass sich 2015 wiederholt?
Wir studieren die Zahlen, ebenso übrigens wie Innenminister Karl Nehammer. Wir wissen ja, was an den Grenzen weltweit und in Europa passiert. Wir sehen, dass in den letzten eineinhalb Jahren fast keine Flüchtlinge mehr von der Türkei nach Griechenland gekommen sind. Wir beobachten das auch an den Grenzen der Türkei zum Iran. 2015 war anders: Die Türkei hatte offene Grenzen zu Syrien, sie war bereit, Millionen aufzunehmen, die meisten sind ja auch geblieben. Einige sind weitergezogen, die waren aber schon vor den Toren der EU. Sie mussten nicht mit Schleppern in die Türkei kommen, sondern nur in Boote steigen. Sie haben eine lebensgefährliche Überfahrt riskiert, aber 99,9% haben diese Überfahrt zu den griechischen Inseln überlebt.
Und heute?
Rund 80 Prozent der knapp Viertelmillion Menschen aus Afghanistan, die seit Ende Mai dieses Jahres zur Flucht gezwungen wurden, sind Frauen und Kinder. Sie müssten mit Schmugglern über mehrere geschlossene Grenzen ziehen, das ist eine radikal andere Situation. Die Politik spricht von Problemen an den Grenzen, aber es schwingt immer eine andere Botschaft mit, die Warnung, die Bevölkerung solle nicht mehr bereit sein, die Flüchtlinge so zu empfangen wie 2015, sie dürfe sich nicht mehr vom Mitgefühl leiten lassen, denn diese Humanität führe zu schlimmen Dingen. Das halte ich für eine extrem schädliche Botschaft. Die meisten Menschen sind stolz darauf, wie das damals gegangen ist. Ich bin gerade in Vorarlberg, da hat fast jedes kleine Dorf jemanden aufgenommen. Die wollen sich nicht schämen!
Die hohe Belastung durch „irreguläre Migration“ wird ins Treffen geführt. Ist sie im Verhältnis tatsächlich höher als anderswo?
2015 war ein Ausnahmejahr, 12 Monate, innerhalb derer eine Million Menschen aus der Türkei nach Griechenland kamen, von denen dann viele weitergezogen sind. Tatsächlich sind pro Einwohnerzahl die meisten nach Schweden gegangen, in absoluten Zahlen die meisten nach Deutschland, und auch nach Österreich sehr viele. Schon im März 2016, nach der Türkei-Erklärung, gingen die Zahlen sprunghaft zurück und sie blieben seitdem niedrig. In den ersten acht Monaten des heurigen Jahres kamen nur 5000 auf dem Land- oder Seeweg nach Griechenland, darunter einige hundert Afghanen. Ja, heute landen auch noch Leute im Burgenland, aber das sind Flüchtlinge, die sich schon jahrelang in Griechenland aufhielten und dort, mit Mitteln der EU versorgt wurden. Das ist keine neue Flüchtlingswelle aus Asien.
Was löst es in Ihnen aus, wenn ständig die "Sicherung der Außengrenzen" beschworen wird?
Ich habe dazu im Dezember des Vorjahres ein Buch geschrieben, mit dem Titel: "Welche Grenzen brauchen wir?" Ich unterscheide da zwischen humanen und inhumanen Grenzen. Jede ernsthafte Diskussion beginnt mit der Feststellung, dass wir natürlich alle Grenzen haben wollen, und auch die Kontrolle darüber. Die Frage ist wie? Wollen wir Minen, Scharfschützen, und die abschreckende Wirkung dadurch, dass wir jeden schlecht behandeln? Oder versuchen wir, durch Kooperationen, Rückführungen bei nicht gegebenem Asylgrund die irreguläre Migration zu reduzieren? Dazu gehört, dass man die Aufnahme von Flüchtlingen in den Nachbarländern finanziell unterstützt, und auch selbst die Übernahme von Flüchtlingen, die auf legale Weise kommen, anbietet. Nur dann ist Kooperation möglich. Ein humanitäres Grenzregime muss also die Diplomatie miteinbeziehen, das geht über den reinen Grenzschutz hinaus. Wir haben ja Erfahrungen damit, wir wissen, wie humanitäre Grenzen aussehen können. Es ist nur anstrengender, als Flüchtlinge einfach zurückstoßen und abzuschrecken.
Ist die Aufnahme von Flüchtlingen, die die EU-Kommission jetzt anstrebt und gegen die sich Länder wie Österreich wehren, nicht genau diese "kontrollierte Flüchtlingsbewegung", die angeblich alle wollen?
Ich würde nicht auf die EU setzen, die wird sich kaum einigen, aber eine Koalition mit Ländern wie Kanada, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Schweden wäre eine Lösung. Österreich könnte mitwirken, mit den Möglichkeiten eines kleinen Landes. Man legt eine bestimmte Zahl von Menschen fest, die man jährlich legal aufnehmen will. Am besten noch verbunden mit Partnerschaften, im Rahmen derer die vielen Menschen in der Zivilgesellschaft eine Chance kriegen, sich um die Leute zu kümmern. Schweden nimmt jährlich 5.000 Flüchtlinge auf, im Verhältnis wären das für Österreich 4.000, für das Land Vorarlberg etwa 200, 0,05 Prozent der Bevölkerung. Das wäre ein Beitrag zu geordnete Migration, und es wäre auch mehrheitsfähig.
Was könnten die Kriterien für die Auswahl sein?
Am Beispiel des großen Vorbildes Kanada: Ein Teil der Leute wird von der UNHCR als besonders schutzbedürftig identifiziert, einen Teil sucht sich der Staat selbst aus, durch Gespräche vor Ort, und einen Teil dürfen kanadische Bürger benennen, auch Gruppen wie Kirchengemeinden, die sagen: diese oder jene Person wollen wir. Der Staat überprüft dann noch einmal, ob es sich um Schutzbedürftige mit Asylgrund handelt. Diese Vorgangsweise führt auch zu einer enorm hohen Akzeptanz in der Bevölkerung. Den Menschen, die Schutz brauchen, wird gleichzeitig so geholfen, dass sich auch ihre Integrationschancen enorm erhöhen.
Alle wollen lieber Hilfe vor Ort leisten. Ist ein Flüchtlingsdeal wie jener mit der Türkei mit den Nachbarstaaten von Afghanistan überhaupt realistisch?
Ein "Abkommen von der Stange" gibt es da nicht. Man muss miteinander reden, die Interessen abgleichen, helfen, wenn diese Staaten dazu bereit sind, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist dann ja auch gar kein besonderer Deal, sondern die schlichte Erfüllung der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten von 2018.
Kann die Hilfe vor Ort auch eine Perspektive für die Flüchtlinge sind? Oder ist es nur Brot und ein Dach über dem Kopf?
Oh doch, da gibt es Beispiele, nicht nur in Europa oder Nordamerika. Uganda etwa hat in letzten acht Jahren viele aufgenommen, viele haben dann auch Land bekommen, und sind unterstützt worden bei der Integration. Entscheidend ist der politische Wille. Die, die jetzt aus Afghanistan fliehen, wollen ja auch nicht alle auswandern, sondern es geht jetzt einmal darum, kurzfristig humanitäre Hilfe zu leisten. Dann wird man sehen, wie sich das weiter entwickelt.
Sind die 18 Millionen, die Österreich bis jetzt zur Verfügung stellt, genug?
Ich habe die Zahlen jetzt nicht im Kopf, ich kann nur sagen: Es ist immer gut, sich an anderen humanen und reichen europäischen Ländern zu orientieren.
Claudia Gigler