Zu überlangen Arbeitszeiten werde es kommen, vor allem für jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von ihren Arbeitgebern unter Druck gesetzt würden. Weil sie nämlich mit Kündigung bedroht würden, sollten sie sich weigern. Und für jene, die einen All-In-Vertrag abgeschlossen hätten, würde sich die Arbeitszeit verlängern, das Gehalt aber nicht, sofern sie sich nicht auf die Hinterfüße stellen.
Das waren die Befürchtungen jener Politiker, die gegen die Einführung des 12-Stunden-Tages waren. Und die Hiobsbotschaften der Gewerkschaft, die viel Leid gewohnt sind, was die Ausnutzung aller rechtlicher Möglichkeiten auf dem Rücken wehrloser Werktätiger gewohnt sind.
Was war das Faktum?
Es wurde per Gesetz von September 2018 die Möglichkeit eingeräumt, über die Normalarbeitszeit hinaus arbeiten zu können, maximal 12 Stunden am Tag, maximal 60 Stunden in der Woche (zuvor waren es 10 Stunden pro Tag und 50 Stunden pro Woche). Über die 10. Stunde hinaus gilt Freiwilligkeit, und die Mehrarbeit soll sich in den Tagen und Wochen danach wieder ausgleichen oder in Form von Überstunden ausbezahlt werden.
Außerdem wurde die Möglichkeit geteilter Dienste eingeführt - Dienste, die früh beginnen, dann eine lange Pause beinhalten und sich am Abend fortsetzen.
Was ist daraus geworden?
Die Statistik Austria errechnete für das Jahr 2019 ein Mehr an Überstunden, das in Österreichs Betrieben geleistet wurde. Hatten 2018 nur 672.200 Österreicherinnen und Österreicher Überstunden geleistet, so waren es 2019 704.800. 7,1 Über- bzw. Mehrstunden wurden 2019 im Durchschnitt pro Woche und Person geleistet. 18,8 Prozent aller unselbständig Erwerbstätigen waren betroffen.
Allerdings: Im Jahr 2020 ging die Zahl wieder zurück, da waren es nur noch 592.800. Der Grund ist naheliegend: Die Corona-Pandemie, die vielen Menschen unfreiwillig eine kürzere Arbeitszeit, wenn nicht überhaupt die Kündigung beschert hat. Ein präziseres Bild wird sich erst in den Jahren 2021 und 2022 ergeben, sagt Roman Hebenstreit, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Vida.
Wie stark stieg die Mehrarbeit?
Gestiegen ist von 2018 auf 2019 vor allem das Ausmaß jener Mehrarbeit, die nur geringfügig über die Normalarbeitszeit hinausging, aber auch die Zahl derer, die mehr als zehn Überstunden pro Woche leisteten, was in vielen Fällen erst durch die neue Regelung legal möglich wurde.
Dann kam Corona, dann kam die Kurzarbeit, und niemand redete mehr vom 12-Stunden-Tag. Dennoch sind einige Entwicklungen bemerkenswert:
Wie freiwillig ist "freiwillig"?
Das Ablehnungsrecht der elften und zwölften Stunde wird als nicht praktizierbar empfunden, zu groß ist der Druck der Arbeitgeber. Keiner droht mehr spontan mit der Kündigung, so schlau sind inzwischen alle. "Dann kommt halt ein paar Wochen später der blaue Brief", weiß Karl Schneeberger von der steirischen Arbeiterkammer.
Zeitausgleich muss oft dann genommen werden, wenn es dem Arbeitgeber passt. Und auch, ob er sich die Überstunden auszahlen lassen oder in Zeitausgleich abbauen will, können sich Betroffene oft nicht aussuchen.
Wie fix ist "fixe" Arbeitszeit?
Der Wunsch nach mehr Flexibilität seitens der Arbeitgeber drückt sich dadurch aus, dass Gleitzeitvereinbarungen zunehmend ohne Kernzeit fixiert werden, wie schon eine Studie von Deloitte aus dem Jahr 2019 zeigte. Früher war es Arbeitgebern ganz wichtig war, über einen möglichst großen Zeitraum hinweg eine Anwesenheitspflicht festzulegen. Immer mehr verschieben sich die gelebten Gleitzeitvereinbarungen in Richtung einer Bedarfsarbeitszeit (gearbeitet wird, wenn es notwendig ist), und das bis zu einem Ausmaß von 12 Stunden pro Tag (früher lag die Grenze bei 10 Stunden).
Interessant: Eine Studie der Forba (Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt) zeigte: Flexible und hochgradig selbstgesteuerte Arbeitszeiten ohne Zeitaufzeichnung sind in vielen Fällen mit langen Arbeitszeiten verbunden. Das Risiko für unbezahlte Überstunden steigt stark an.
Wie steht es um den Wunsch nach Freizeit?
Dass viele Arbeitnehmer ihren Arbeitstag als zu lang empfinden, hat sich in den Zeiten der Corona-Kurzarbeit noch verstärkt: Viele Menschen haben es zu schätzen gelernt, über mehr Freizeit zu verfügen und nehmen dafür gerne Einkommenseinbußen in Kauf.
Zumal in vielen Fällen nicht einmal mehr Geld die logische Folge von mehr Arbeit ist: Der All-In-Vertrag feiert fröhliche Urständ': Verträge, die mit einer Zulage ausgestattet sind, die allerdings die Arbeitszeit pauschal abdeckt. Theoretisch kann der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin am Ende jedes Jahres eine Deckungsprüfung verlangen und die Abgeltung von "zu viel" geleisteter Arbeit verlangen. Praktisch ist das kaum der Fall.
Besorgniserregend ist, dass diese All-In-Verträge und Überstundenpauschalen nicht nur Führungskräften angeboten werden, mit einem erklecklichen Zubrot, sondern auch kleinen Angestellten im Handel etwa. die mit Brosamen abgespeist werden und sich gegen die Mehrarbeit kaum wehren können.
Was bedeutet der 12-Stunden-Tag für All-In?
Barbara Teiber, Vorsitzende der Gewerkschaft der Privatangestellten, beobachtet: "Es wird mehr Geld für das gleiche Geld eingefordert." 2019 wurde bei 44 Prozent der untersuchten Verträge eine Unterbezahlung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden durch das All-in-Gehalt festgestellt. Der Grund: All-in-Verträge, die vor der Novelle abgeschlossen wurden, decken nur die alten Höchstarbeitszeiten ab. In den seltensten Fällen kam es zu einer Anpassung. Eine Sonderentwicklung zeichnet sich in der Gastro ab (siehe unten).
Generell gilt: Das Recht auf Freizeit ist weniger abgesichert als vor der Einführung des 12-Stunden-Tages, der Arbeitsinspektor hat kaum noch ein Handlungsfeld. Dazu kommt, so Georg Gasteiger von der Dienstleistungsgewerkschaft Vida, dass andere Gesetzesänderungen zur Folge haben, dass die Arbeitgeber oft nur "beraten" statt abgestraft werden, und dass - im Gegensatz zu früher - bei mehreren Übertretungen nur noch eine Strafe verhängt wird, während es früher eine Strafe für jede Übertretung war. All das hat die abschreckende Wirkung minimiert.
Wie läuft's in der Gastro?
Eine Sonderentwicklung gibt es im Bereich Gastronomie. Der Mangel an Fachkräften führte dazu, dass es den 12-Stunden-Tag, früher der "Normalfall", fast nicht mehr gibt. Johann Spreitzhofer, und Josef Petritsch, Spartenvertreter Tourismus in der Wirtschaftskammer: "Der 12-Stunden-Tag hat für uns keine Relevanz mehr, weil die Mitarbeiter keine 12 Stunden arbeiten müssen." Der Hintergrund: Auf 15 Köche, die eine Stelle suchen, kommen 1.000 offene Stellen...
Am Beispiel von Spreitzhofers Betrieb, dem Landhotel Spreitzhofer in St. Kathrein am Offenegg: "Wir müssen unsere Mitarbeiter auf Händen tragen, die sind der Goldschatz, den wir haben": Die Köche beginnen erst zu Mittag, die Küche schließt um 19.30 Uhr. Die Gäste haben sich umgestellt.
Alle Mitarbeiter hätten ihre freien Tage, ein wenig Urlaub sogar in der Hochsaison. Wenn's eng wird, springen die Familienmitglieder ein. Teildienste gibt es gar nicht mehr. Die Frühkellner hören um 12 Uhr auf, die nächten fangen zu Mittag an und arbeiten bis 21 Uhr.
Was wurde aus den "geteilten Diensten"?
Ähnlich läuft's in Josef Petritschs Hotel Marko am Klopeinersee. Fast "normale" Acht-Stunden-Dienste für alle, nur auf die geteilten Dienste kann man nicht verzichten. Die Kellner werden morgens und abends gebraucht, dafür schaut man darauf, dass die Pause in der Mitte möglichst lang ist. Viele Beschäftigte sind Saisonarbeitskräfte, wohnen im Hotel und haben daher keine Fahrzeiten dazwischen. Das Zuckerl: Auch sie dürfen die Einrichtungen der Gäste benützen, wie Schwimmbad, Tennisplätze, etc. Abgänge als Folge einer überlangen Arbeitszeit hatte man keine. "Die Mitarbeiter stehen zum Haus."
Die "geteilten Dienste" sind in anderen Branchen und Betrieben eine hohe Belastung, "ein Riesenthema" für Gewerkschafter Gasteiger. In der Reinigungsbranche etwa kommt es immer häufiger zu dieser Art der Verlängerung des Arbeitstages.
Die Menschen beginnen in aller Früh, machen eine lange Pause, und arbeiten dann wieder am späteren Abend. Zeiten, in denen es auch kaum Kinderbetreuung gibt. Dazu kommt, dass sich oft durch den Wechsel zwischen Gebäuden, durch Fahrzeiten dazwischen, Pausen ergeben, die lange genug sind, um den Arbeitstag überlang werden zu lassen, aber zu kurz, als dass man sie wirklich für Freizeit oder Familie nutzen könnte.
Wie steht's um Vereinbarkeit mit Familie?
Der Soziologe Jörg Flecker zog in der Broschüre "Arbeiszeiten im Fokus" folgendes Resumee: " Lange Arbeitszeiten, zeitlich flexibler Personaleinsatz und dadurch geringe Planbarkeit sind Gift für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In Österreich ist die Arbeitszeit sowohl lange als auch hochgradig flexibel. In Verbindung mit einer traditionellen Aufteilung der Haus- und Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen schlägt sich das auch in einer sehr hohen Teilzeitquote bei Frauen nieder."
Die Teilzeitarbeit habe erhebliche Nachteile im Hinblick auf Einkommen, Karriere und Pensionshöhe. Wobei nicht gesagt sei, dass Teilzeitarbeit tatsächlich das Problem der Vereinbarkeit löse, denn gerade Teilzeitkräfte werden häufig flexibel eingesetzt und zu Mehrarbeit herangezogen. Die höhere Flexibilität für die Betriebe in Form von 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche benachteilige Personen mit Familienpflichten, in der überwiegenden Mehrheit Frauen, noch viel stärker.
Was änderte sich durch Home-Office?
Die Corona-Krise habe die Ungleichheiten der Arbeitszeit noch verstärkt. Für diejenigen, die im Home-Office arbeiten oder gearbeitet haben, sei dazugekommen, dass die Arbeitszeit noch stärker entgrenzt wurde. Nach einer Befragung, die an der Uni Wien im Juli 2020 durchgeführt wurde, arbeiteten deutlich mehr als die Hälfte mit Unterbrechungen von früh bis spät. Viele wurden auch außerhalb der vereinbarten Arbeitszeit vom Betrieb oder von Kunden kontaktiert.
Wo gibt es für mehr Arbeit mehr Lohn?
Es ist Sommer. Thema waren im vergangenen Jahre Corona und Kurzarbeit stärker als die Arbeitzeitbelastung, aber das Thema kehrt zurück. Spätestens im Herbst, wenn sich die Kollektivvertragsverhandler ans Werk machen.
Im Bereich der Industrie wurden dem 12-Stunden-Tag vielfach durch teure Zuschläge auf die 11. und 12. Stunde die Giftzähne gezogen. Es ist davon auszugehen, dass die Gewerkschaft auch in anderen Branchen auf dieses Mittel setzen wird. Karl Schneeberger, Arbeitszeitexperte der AK: "Wenn schon länger gearbeitet werden soll, dann wenigstens gegen gutes Geld." Wenn nicht übertrieben werde, hätten viele mit Mehrarbeit kein Problem.
Gernot Pagger von der steirischen Industriellenvereinigung stellt fest: "Alle wollten den 12-Stunden-Tag. Jetzt ist er da, und keiner redet mehr davon." Die Möglichkeit, die Arbeitszeit entsprechend der Auftragslage oder wegen dringender Kundenwünsche auszuweiten, sei im produzierenden Bereich Teil der gelebten Praxis, "ohne dass jemand ausgebeutet wird oder sich ausgenutzt fühlt". Der 12-Stunden-Tag sei letztlich die ganz große Ausnahme geblieben.
In der Gastronomie hat es der Markt geregelt: "Die meisten von uns zahlen heute mindestens 15 bis 20 Prozent über KV", sagt Spartenvertreter Spreitzhofer.
Claudia Gigler