Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem „Fall Leonie“? Müssen interne Verfahrensabläufe verbessert werden, oder plädieren Sie für neue Gesetze?
KARL NEHAMMER. Es wird beides notwendig sein. Wir brauchen bessere Verfahrensabläufe, aber die können wir erst dann erreichen, wenn die Europäische Union uns die Möglichkeiten dazu gibt. Derzeit bewegt sich die Kommission in die völlig falsche Richtung. Das europäische Asylsystem ist gescheitert.
Inwiefern gescheitert?
An einem Beispiel: Wir entsenden demnächst eine Spezialeinheit der Cobra an die litauische Grenze, weil Weißrussland tausende illegale Migranten an die Grenze karrt, um Druck auf die baltischen Staaten auszuüben. Die Reaktion der Europäischen Union ist, dass sie Litauen unterstützen, Aufnahmezentren zu finanzieren, aber nicht, Grenzsicherungsmaßnahmen in Form eines Grenzzaunes zu ergreifen. Das ist das völlig falsche Signal.
Wie sollte das Asylsystem Ihrer Meinung nach aufgebaut sein?
Es geht darum, sichere Drittstaaten in den Prozess einzubeziehen, sodass es nicht mehr sein muss, dass ein Afghane bei uns einen Asylantrag stellt. Je nach Route durchquert er bis zu zehn sichere Staaten, in denen er nicht mehr verfolgt wird. Sobald er einen dieser Staaten verlässt, ohne einen Asylantrag zu stellen, ist er kein Flüchtling, sondern ein irregulärer Migrant. Das heißt, es gibt grundsätzlich keinen Grund für einen Afghanen, in Österreich einen Asylantrag zu stellen. Das sieht auch die Genfer Flüchtlingskonvention nicht vor.
Würden Sie gerne die Flüchtlingskonvention ändern?
Das Gegenteil ist der Fall: Die Flüchtlingskonvention ist unser stärkster Verbündeter. Die besagt nämlich, dass sich nicht jeder aussuchen kann, wo er seinen Asylantrag stellt, im Gegenteil. Ziel ist es, Menschen in Bedrohung Schutz zu gewähren. Und das ist eben in den Nachbarstaaten.
Das würde bedeuten, dass Österreich gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen müsste, weil wir ja von sicheren Drittstaaten umgeben sind.
Gar keine stimmt nicht, weil es ja immer noch den Flughafen gibt. Und Österreich hat immer geholfen, wenn es um die Nachbarschaft ging. Denken Sie an die Krisen in Ungarn, Tschechien und Jugoslawien. Wir haben derzeit die drittmeisten Asylanträge in der EU. Der dänische Innenminister sagt richtigerweise, Dänemark ist ein sozialer Wohlfahrtsstaat und muss schauen, dass er das auch bleiben kann und dass das System nicht kippt. Das gilt auch für Österreich.
Die drittmeisten Anträge sind erstaunlich. Provokante Frage: Ich dachte, die Balkanroute sei geschlossen.
Provokante Antwort: Selbst totalitäre Regime haben die Grenzen nie ganz dicht gehabt. Nicht einmal in der DDR. Und: Wäre die Balkanroute nicht geschlossen, hätten wir Bilder wie 2015.
Gegen Ihren Vorschlag werden sich die Länder wehren, die dann die Flüchtlinge aufnehmen müssten.
Wir müssen mit der Macht des Europäischen Wirtschaftsraumes agieren und Abkommen mit Drittstaaten abschließen. Es muss eine win-win-Situation für die Staaten geben, die mit uns kooperieren.
Was hätte Europa anzubieten?
Wir können die Länder vor Ort unterstützen, wenn es Krisen gibt. Die Türkei bekommt von der EU 3,6 Milliarden Euro. Auch in Jordanien und im Libanon hilft die EU. Ähnliche Abkommen könnte es auch mit anderen Staaten geben, etwa in Nordafrika mit Tunesien oder Marokko. Wir müssen mit afrikanischen und asiatischen Staaten auf Augenhöhe verhandeln und ihnen klar machen, dass sie davon profitieren, wenn sie mit uns kooperieren. Es geht da nicht nur um die Unterstützung, wenn sie Flüchtlinge aufnehmen, sondern auch darum, Fluchtursachen zu bekämpfen, Stabilisierung zu erreichen.
Die „Anlandeplattformen“ sind kein Thema mehr?
Die sind 2018 von den Regierungschefs beschlossen worden, das muss irgendwann eingeschlafen sein und muss jetzt wieder aktiviert werden. Warum hat der Vorgänger von Kommissarin Ylva Johansson aufgegeben? Weil es sauschwer ist, Kooperationspartner zu finden. Aber das ist eben das Bohren harter Bretter.
Wenn wir von der europäischen wieder auf die nationale Eben kommen: Was halten sie für vordringlich?
Schnelle Asylverfahren, starker Außengrenzschutz und Rückführungen. Die Rückführungen sind das Geheimnis, weil das ist ein wichtiges Signal in den Herkunftsländern: Es hat keinen Sinn, sich auf den Weg zu machen und 5000 Dollar der organisierten Kriminalität in den Rachen zu werfen.
Sie würden auch nach Afghanistan verstärkt abschieben?
Auf jeden Fall, so lange es geht. Das ist unerlässlich. Und es ist für mich ein Armutszeugnis der Europäischen Union, dass wir nicht mehr Charterflüge zustande bringen.
So wie sich Afghanistan entwickelt, sind vielleicht bald gar keine Abschiebungen mehr möglich.
Wenn wir in ein Land nicht abschieben können, müssen wir den dänischen Weg gehen mit Kooperationspartnern, die bereit sind, diese Menschen vorübergehend aufzunehmen, bis wir zurückführen können. Dafür bekommen sie eine Geldleistung einerseits für die Betreuung und andererseits eine Kooperation, dass es der Wirtschaft gut geht. Wir dürfen nicht aufgeben, uns zurücklehnen und sagen, da kann man wegen der Genfer Flüchtlingskonvention nichts machen. Das stimmt nicht. Die GFK ist die schlechteste Ausrede.
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist für Sie kein Gegenargument?
Für mich war das beste Beispiel der Fall Leonie: Davor: Zwei Aufforderungen von Parteien an mich, dass wir nicht mehr nach Afghanistan abschieben. Mit tiefschürfenden Begründungen, wie unmenschlich der Innenminister ist, wenn er das tut. Passiert etwas, gibt es de facto Einigkeit unter allen im Parlament vertretenen Parteien, sofort abzuschieben und zwar am besten nach der ersten Instanz. Das ist absurd.
Sind Ihre Vorschläge mit dem Koalitionspartner abgesprochen?
Grundlage unseres gemeinsamen Handelns ist das Koalitionsabkommen. Und da steht auf Seite 197, die Koalition verpflichtet sich zu Maßnahmen, damit sich Vorgänge wie 2015 nicht wiederholen. Das heißt, ich arbeite auf Basis des Koalitionsabkommens.
Das werden die Grünen vielleicht nicht ganz so sehen.
Dass es ein spannungsgeladenes Thema zwischen uns und den Grünen ist, ist völlig klar. Ich bin im engen Austausch mit Georg Bürstmayr, Alma Zadic und Sigi Maurer. Gemeinsames Interesse ist, dass Österreich sozial und sicher bleibt. Auf welchem Weg das erreicht wird, da haben wir unterschiedlich Zugänge.
Sind von Ihrer Seite neue Gesetze geplant?
Zuerst geht es um die europäische Ebene, weil sie uns nationalstaatlich den Rahmen vorgibt. Sonst kippt uns der EuGH nationalstaatliche Regelungen. Aber wir sind dabei, Verbündete zu finden.