MICHAEL FLEISCHHACKER: Die Frage, was in der österreichischen Asylpolitik schief läuft, lässt sich wohl am knappsten und präzisesten so beantworten. Fast alles, und das schon immer. Spätestens aber, seit man in einem kollektiven Anfall von politischem Wahnsinn die Idee des Asyls und ihre rechtliche Ausgestaltung, die dezidiert auf den seltenen Einzelfall ausgelegt war, auf die Massenmigrationsphänomene unserer Tage anzuwenden begann. Das für den seltenen Einzelfall konzipierte Einzelprüfungsverfahren überfordert auch die robusteste Bürokratie und führt auf allen Seiten zu nichts als zu Frustration.
THURNHER: So selten ist der Anlassfall nicht. Aber Anlass ist ein gutes Stichwort: Asylpolitik interessiert erst, wenn sie einen Anlass bietet, populistisches Kleingeld daraus zu schlagen. Haben Sie schon einmal eine Titelgeschichte über geglückte Asylgeschichten gelesen? Hat sich ein Bundeskanzler je damit wichtig gemacht, Menschen beschützt, ihnen ein paar Jahre der Würde gegeben zu haben, ehe sie in ihre Heimat zurückkehrten? Kaum passiert ein ekelhafter Mord, springt er vor und versucht damit im vorauseilenden Wettbewerb mit der Kickl-Partei Emotionskassa zu machen. Lässt sich darauf eine Politik gründen?
FLEISCHHACKER: Ich glaube, hier beginnt schon das Problem: Es gibt keine geglückten Asylgeschichten. Es gibt geglückte Integrationsgeschichten, und am Beginn von manchen dieser Geschichten stand ein Asylverfahren. Wahrscheinlich ist das allerdings nicht. As gutem Grund: Die Asylgewährung ist der Idee nach temporär und Menschen vorbehalten, die in ihrem Herkunftsland individueller Verfolgung aus spezifischen Gründen ausgesetzt sind. Dass in einem Land Krieg herrscht, gehört übrigens nicht zu diesen Gründen. Dass in einem Land Krieg herrscht, kann aber dazu führen, dass man Menschen, deren Asylantrag zurecht abgelehnt wurde, nicht in ihr Herkunftsland zurückschicken kann. Es ist also kompliziert, und das, soweit würde ich Ihnen zustimmen, lädt alle Seiten dazu ein, mit Vereinfachungen Stimmung zu machen. Die menschenrechtsbewegten Ideologen stehen den identitären Ideologen darin um nichts nach.
THURNHER: Nur dass sie es halt doch im Namen der Humanität tun. Zu helfen ist ein menschenwürdiger Impuls, den man stets versucht, lächerlich zu machen. Das Gegenteil ist die hässliche Fratze des Inhumanismus, die tut, als sei sie vernünftig. Gerade heute las ich das Wort „Humanitätsfalle“ vom freiheitliche Abgeordneten Waldhäusl, der naturgemäß die europäischen Menschenrechte neu definieren möchte, wie auch andere in seiner Partei. Die sogenannte Humanitätsfalle ist doch unsere Menschenpflicht. Das ist doch großartig: eine Partei, die sich „freiheitlich“ nennt, nennt Menschenrechte, die Grundlage unserer Freiheit, eine Falle. Das ganze Thema ist vertrackt, da sind wir uns gleich einig, aber die Frage ist doch, wie setzt man die Akzente, was betont man, was hebt man hervor.
FLEISCHHACKER: Im Namen der Humanität sind schon viele schlimme Dinge passiert, und dennoch haben sie recht, es ist uns aufgetragen, uns als Menschen zu erweisen. Jeder soll helfen, wo er kann. Ich halte gleichwohl wenig davon, im Namen der Humanität Dritte in Anspruch zu nehmen, dazu habe ich zu viele frömmelnde Christenmenschen erlebt, die glauben, es reiche, wenn man die Wange eines anderen hinhält. Ich glaube, dass wir einen Weg finden müssen, den vielen Menschen, die aufgrund eines dysfunktionalen Asylwesens dauerhaft, aber ohne dauerhafte Perspektive in diesem Land leben, weil sie zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, aber realistischer Weise nicht abgeschoben werden können, eine Perspektive zu geben. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass weniger Menschen in diese Situation kommen. Und das wird nur funktionieren, wenn man entweder die Schengen-Außengrenzen rigoros schützt, oder einen Weg findet, den massiven Missbrauch des veralteten, für die gegenwärtige Situation nicht gemachten Asylwesens einzuschränken.
THURNHER: Sie haben sicher mit dem Recht, was Sie eingangs bemerkten, dass Asyl- und Migrationspolitik miteinander vermengt werden. Das sollte man trennen, und die Ziele einer Migrationspolitik sorgfältig formulieren. Es hat keinen Sinn, die Bevölkerung damit zu belügen, wir bräuchten keine Zuwanderung. Diese Lüge ist vielmehr ein Verbrechen an künftigen Generationen, deren Wohl von den brunnenvergiftenden Wohltätern so gern beschworen wird. Zweitens sollten wir unsere Möglichkeiten, Menschen aufzunehmen, nicht unterschätzen. Es kommt schon sehr auf die Umstände an, unter denen man das tut. Die kann und muss man gestalten. Und drittens, da haben Sie auch recht, bedarf es natürlich eines ordentlichen Grenzmanagements an den Grenzen der EU – Versuche, Bootsflüchtlinge zu ertränken oder zu beschießen, gehören nicht dazu. So viel Differenz in der Übereinstimmung, das soll uns einmal wer nachmachen!
FLEISCHHACKER: Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass wir schreiben können, was wir denken, und nicht sagen müssen, was andere hören wollen. Die Frage, ob wir Zuwanderung brauchen, um nicht auszusterben, halte ich übrigens für noch nicht beantwortet, aber ich halte auch das Überleben der Europäer wie der gesamten Menschheit nicht für einen Selbstzweck. Ich glaube aber, dass Wandern zum Wesen des Menschen gehört, und dass es ein Recht geben sollte, sich niederzulassen, wo immer man will, solange man dazu in der Lage ist, sich selbst zu erhalten. Milton Friedmann hatte wohl auch darin Recht: Man kann nicht zugleich offene Grenzen und einen Sozialstaat haben. Wir würden über Migration und Integration ganz anders reden, und wir hätten wohl auch nur einen Bruchteil der Asylwerber, die wir heute haben, gäbe es nicht den brutalen Wettbewerb um die Alimentationsleistungen des spätmodernen Wohlfahrtsstaates.
THURNHER: Das wäre natürlich ein Schlüssel zur Lösung des Problems, der Ihnen und Milton Friedman nicht einfallen würde: die Globalisierung des Wohlfahrtstaats. Oder auch, die gerechtere Verteilung des Reichtums, weltweit. Migration stelle ich mir übrigens nicht als Maßnahme gegen unser Aussterben vor, sondern eher als Nachschub von Arbeitsbereitschaft und Qualifikation, die von verwöhnten Gesellschaften wie der unseren so nicht mehr angeboten wird.
FLEISCHHACKER: Da haben Sie recht, die Globalisierung des Wohlfahrtsstaates halte ich für keine Lösung, weil die Ausschaltung des Wettbewerbes verhindern würde, dass der Wohlstand, den man per Sozialstaat umverteilt, auch erworben wird. Aber mehr Chancengleichheit würde dem Globus und vor allem den Bewohnern seines Südens wohl guttun, so weit können wir uns, glaube ich, einigen. Bloß bedeutet Chancengleichheit eben automatisch unterschiedliche Ergebnisse, das wird von den Verfechtern des globalen Einheitssozialstaates gern übersehen.
THURNHER: Also gut, der Weg ist weit, aber er kann auch nur erfolgreich sein, wenn der öffentliche Dialog über Asyl und Migration entgiftet wird. Vielleicht haben wir beide hier ausnahmsweise ein wenig dazu beigetragen.