Deutschland und die Niederlande schieben vorerst keine Menschen mehr nach Afghanistan ab. "Der Bundesinnenminister hat aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen", sagte ein Sprecher des deutschen Innenministeriums
Die USA und die NATO zogen die internationalen Truppen aus Afghanistan ab. Das Land droht in ein Chaos zu stürzen. Die Taliban erobern eine Bastion nach der anderen zurück. Zuletzt haben sie in der Großstadt Kunduz im Norden Afghanistans - bereits die neunte Provinzhauptstadt, die in ihre Hände fiel - nun auch den Flughafen und eine große Militärbasis erobert.
Für die nach Afghanistan zurückgeschickten Flüchtlinge aus Europa wird die Lage noch brisanter als sie es bisher schon war. Es handelt sich um die zweitgrößte Gruppe von Asylantragstellern in Österreich. Die Liste jener, denen Asyl oder ein subsidiärer Schutzstatus gewährt wird, sowie die Liste der offenen Asylverfahren führen sie an. Die jüngste Idee: Die Türkei zum sicheren Drittland zu erklären und Flüchtlingen damit die Weiterreise zu verwehren.
Die Perspektive für Rückkehrer ist wenig erfolgversprechend. Das Land ist nicht sicher. Den Abgeschobenen droht der Tod. Zuletzt hatte die Diakonie darauf aufmerksam gemacht. Die Deutsche Friederike Stahlmann, langjährige Gutachterin für Afghanistan, auch für die Österreichischen Gerichte, erstellte 2021 eine Studie, die schon vor der jüngsten Verschärfung belegte, dass abgeschobenen Afghanen Gefahr für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung droht.
Unter anderem werde ihnen insbesondere auch wegen ihrer Flucht nach Europa "Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten und die Abkehr vom Islam" vorgeworfen. Auch die Familien von Europa-Rückkehrern seien gefährdet.
Kein Familienanschluss
Betroffene Familien versuchen entweder sich zu schützen, indem sie den Kontakt mit den Rückkehrern verweigern, oder Abgeschobene müssen versteckt bleiben. Dieser soziale Ausschluss aufgrund der spezifischen Sicherheitsrisiken macht eine Reintegration oder eine Existenzgründung für Abgeschobene auch unabhängig von der derzeitigen Eskalation der Not nahezu unmöglich.
Den Rückkehrern fehle deshalb vielfach das überlebenswichtige familiäre Netz. Viele von ihnen haben schon lange keine Familie mehr in Afghanistan, weil diese seit Jahren und Jahrzehnten in Nachbarländern wie dem Iran lebe. In Afghanistan machen sich in diesen Tagen indes viele Angehörige schiitischer Minderheiten wie der Hazara neuerlich auf die Flucht.
Neuerliche Flucht oder Tod
Die Studie von Friederike Stahlmann dokumentiert die Erfahrungen von 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen. Bis auf einen Betroffenen haben alle bekannten Abgeschobenen das Land wieder verlassen oder planen dies. Zwei haben Suizid begangen.
Die Diakonie fordert: „Wir gefährden sehenden Auges das Leben dieser Menschen durch Abschiebungen nach Afghanistan und setzen sie der Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen und Verelendung aus. Dies ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar. Wir fordern, dass auch Österreich endlich auf die desaströse Sicherheitslage in Afghanistan reagiert und sämtliche Abschiebungen dorthin stoppt. Bereits in Schubhaft befindliche Betroffene müssen umgehend freigelassen werden."
Claudia Gigler