Die Frage: Sind wir alle ein wenig korrupt? – sogar ein wenig über dem EU-Durchschnitt –, provoziert eine typisch österreichische, weil ordnungsstaatlich schlampige, „balkanesische“ Antwort: Ja, und?
So eine Antwort mag angesichts der laufenden Ereignisse rund um unseren Bundeskanzler und seine engeren Vertrauten, auch um einige Herren in hohen und höchsten bürokratischen Funktionen schnoddrig, wenn nicht gar zynisch anmuten.
Werfen wir einen Blick in das Lexikon, so steht bei „korrupt“ gleich vorneweg: „abwertend“, denn dieses Adjektiv bedeutet unter anderem: „bestechlich, käuflich oder auf andere Weise moralisch verdorben; aufgrund von Abhängigkeiten, Vetternwirtschaft, Bestechung oder Ähnlichem so beschaffen, dass bestimmte gesellschaftliche Normen oder moralische Grundsätze nicht mehr wirksam sind“.
Laut einer EU-Studie sollen im Vorjahr 40 Prozent der befragten Österreicherinnen und Österreicher Dinge getan haben, die unter die angegebene Definition fallen, vorwiegend Schmiergeld an Beschäftigte im öffentlichen Dienst gezahlt haben. Ist das nicht schrecklich, muss das nicht zum Verlust des Vertrauens in die Glaubwürdigkeit der Staatsdiener und endlich zum Verfall der Gesellschaft führen?
Ja und nein. Klar scheint zu sein, dass Gemeinschaften degenerieren, in denen Käuflichkeit die gewöhnlichen moralischen Tugenden auszuhebeln beginnt, insofern diese jenen vorbehalten bleiben, die keine Möglichkeit haben, sich durch eine korrupte Lebensführungspraxis ein angenehmeres Dasein zu ergaunern. Solche Gemeinschaften, in denen herablassend gilt: „Dumm, aber ehrlich!“, führen auf lange Sicht zur Verderbtheit im Ringen um Vorteilsbeschaffung und darüber hinaus zu einem sich ständig verschärfenden Kampf um die einträglichsten Plätze in der Korruptionshierarchie.
Aber hier ist dann – mit einem kolonialistischen Schimpfwort gesprochen – von den „Bananenrepubliken“ die Rede, in denen praktisch jede Leistung der Existenzsicherung mit mafiosen Mitteln und üppigem „Bakschisch“ erkauft werden muss. Im Kontrast dazu darf guten Gewissens behauptet werden: Österreich ist keine Bananenrepublik.
Wie alarmierend ist also eine Studie, die fast der Hälfte der Befragten attestiert, dann und wann – bei Gelegenheit eben und um eines unlauteren Vorteils willen – dem Korruptionsdruck nachzugeben? Nun, so ließe sich argumentieren, es handelt sich dabei zwar nicht um moralisch Billigenswertes, aber in gewissen Grenzen doch um ein eingebürgertes „kooperatives“ Verhalten, welches im Rahmen des Menschlich-allzu-Menschlichen auch eine soziale Kittfunktion hat.
Das mag überraschen und manches weltfremde Gemüt empören. Kleine unerlaubte Geschenke im Beruf, beim Arzt oder einem behördlichen Dienstleister, um den Bestochenen zu einer zwar unerlaubt protektiven, aber wenig schädlichen Handlung zu „motivieren“ – wem dieses Muster der Lebenserleichterung fremd ist, der möge vortreten und den ersten Stein werfen! Der lebenstüchtige Mensch weiß, was „gespielt“ wird, wo menschliche Schwächen an engführenden Orten der Güterbeschaffung gedeihen. Kleinkorruption zerstört nicht einfach den Zusammenhalt.
Dass wir um unsere Schwächen wissen, einander nicht „verpetzen“, obwohl wir uns dadurch zumindest einen moralischen Vorteil herausschinden könnten, schafft Konventionen im Zwielicht: Auf die Alltagsschattenwirtschaft ist Verlass. Wer diese Sichtweise ablehnt, ja sich darüber empört, sollte den Typus des Moralapostels ins Auge fassen, dem unsere stillschweigende Verachtung gilt. Denn dabei handelt es sich um jenen fragwürdigen Charakter, der seine Korrektheit quasi wie einen Prinzipienbauchladen vor sich herträgt: „Schaut, wie korrekt ich bin!“
Und dabei lässt der Moralapostel seinen Blick wie einen Suchscheinwerfer über die imperfekte Szenerie der Mittelmäßigen gleiten. Immanuel Kant, der wohl tiefsinnigste und nachhaltigste Philosoph der Aufklärung, machte sich als Pflichtethiker für die These stark, kein Mensch dürfe jemals aus der Not seiner Lage heraus lügen, nicht einmal aus „Menschenliebe“, zum Schutz seines Nächsten. Würden wir dieser Gesinnung folgen, dann hätten wir das Problem der Korruption mit einem Schlag beseitigt.
Demzufolge müsste jeder Mensch, unter der bedingungslosen Pflicht zur Lebensführungstransparenz, allen anderen die Sünde seiner Bestechlichkeit eingestehen. Das ist eine grauenhafte Vision, die an die Selbstbezichtigungstribunale in den Terrorregimes unter Stalin, Mao Tse-tung und manchem heutigen Diktator erinnert …
Und was folgt nun aus all dem?
Einerseits, dass unter realistischer Einschätzung der menschlichen Natur, welche den Hang zur Korruption miteinschließt, die weise Übung des Darüberhinwegsehens segensreich sein kann. Andererseits aber, dass eine liberale Gesinnung kein Freibrief zum Korruptionsbazar der Mächtigen sein darf, solange es überhaupt noch darum geht, das Vertrauen in die Politik, in die Justiz, die Administration und Exekutive aufrechtzuerhalten.
Korruption im Staat, die von den Korruptionisten hemmungslos als Bonus ihrer Macht verbucht wird, ist Gift für den Glauben an die Legitimität der öffentlichen Autoritätsausübung, sie untergräbt auf Dauer den Rechtsgehorsam. Die Korruption im Wirtschaftsleben, das an mächtigen Schlüsselstellen häufig mit der Politik verzahnt ist, wirkt als Brandbeschleuniger. Um unser Haus Österreich in Ordnung zu halten, braucht es keine scheinheiligen Beteuerungen der Bevorteilungsabstinenz; es braucht stattdessen tiefreichende, rasch wirksame Kontrollmaßnahmen gegenüber dem politökonomischen Korruptionskomplex.
So wenig man die Kleinkriminellen gleich hinter Gitter bringen soll, so wenig ist es angebracht, eine im Volk verbreitete, eingeübte und weithin akzeptierte Kleinkorruptionspraxis zum Anlass einer Entlastung derer zu nehmen, die über unser aller Schicksal bestimmen. Falls die regierenden Politiker und Hauptgeschäftsführer (CEOs) ihre Machtstellung missbrauchen, um Postenschacher und Selbstbereicherung zu forcieren, sind sie die eigentlich Asozialen. Deren Umtriebe werden keineswegs dadurch besser, dass man es andernorts, im – wenn man so sagen darf – gesellschaftlichen Normalbetrieb „nicht immer so genau nimmt“, wenn es um die korrekte Abwicklung einer Gütertransaktion geht.
Es gibt kein österreichisches Korruptions-Gen, wir sind bei Weitem kein korruptes Volk auf dem Weg zur Unregierbarkeit. Wohl aber herrscht ein verbreitetes Unverständnis hoher Amtsträger und Manager, was die Forderung nach erhöhter Verantwortlichkeit betrifft. Mit der Korruptionskumpanei, die den Rücktritt öffentlicher Personen als einen Akt großmütiger Kapitulation vor dem „Trommelfeuer der Medien“ erscheinen lässt – mit dieser Tradition muss endlich Schluss gemacht werden.
Peter Strasser