Der letzte österreichische Soldat verlässt heute Afghanistan. Die Regierung des früheren US-Präsidenten Donald Trump hatte im Februar 2020 in Doha ein Abkommen mit den radikal-islamischen Taliban geschlossen, um den längsten Kriegseinsatz der US-Geschichte zu beenden. Die USA sowie die gesamte NATO - und damit auch das österreichische Kontingent - begannen dann Ende April mit ihrem Truppenabzug.
14 Bundesheer-Angehörige waren Anfang Mai vor Ort. Nach fast 20 Jahren endet der Einsatz des Bundesheers im Land am Hindukusch. Zuletzt waren die Österreicher im Bereich Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte tätig. Die Aufgaben waren beratend und unterstützend, die Soldaten beteiligten sich nicht aktiv an Kampfhandlungen.
Neues Chaos
Wie sich die Sicherheitslage entwickeln wird, ist nach Ansicht von Experten unklar. Beobachter befürchten allerdings, dass der internationale Truppenabzug Afghanistan in neues Chaos stürzen könnte. Es sei "logisch", dass die militant-islamistischen Taliban in dem Land am Hindukusch weiter massiv an Raum gewinnen werden, so Tanner. Deswegen sei es "besonders wichtig", den Einsatzraum so schnell wie möglich zu verlassen, "denn umso weniger NATO-Truppen in Afghanistan sind, desto gefährlicher wird die Lage für die eigenen Soldaten".
Für die nach Afghanistan zurückgeschickten Flüchtlinge aus Europa wird die Lage noch brisanter als sie es bisher schon war. Es handelt sich um die zweitgrößte Gruppe von Asylantragstellern in Österreich. Die Liste jener, denen Asyl oder ein subsidiärer Schutzstatus gewährt wird, sowie die Liste der offenen Asylverfahren führen sie an.
Die Koalition ist sich uneinig bezüglich der Abschiebungen nach Afghanistan. Dass Flüchtlinge in dieses Land zurückgebracht gebracht werden, sieht die Grüne Justizministerin Zadic sehr kritisch. Ohne das Innenministerium direkt anzusprechen, verlangte sie eine Evaluierung und, die entsprechenden Stellungnahmen des UNHCR zu berücksichtigen.
Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wies dies in einer Stellungnahme zurück. Österreich werde nach wie vor sowohl freiwillige als auch zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan durchführen, wie dies auch EU-weite Praxis sei. Rund 40 Prozent der abgeschobenen Afghanen seien in Österreich straffällig geworden - das zeige wie wichtig ein konsequentes Vorgehen sei. Afghanistan ist allerdings in der Abschiebe-Statistik nicht mehr unter den Top 10. Wurden 2019 noch 268 Personen in das Land am Hindukusch abgeschoben, so lag die Zahl 2020 unter 85.
Die jüngste Idee zum Afghanistan-Problem: Die Türkei zum sicheren Drittland zu erklären und Flüchtlingen damit die Weiterreise zu verwehren. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) stellte fest: "Das zivile Engagement der Europäischen Union aber auch der NATO müsse gestärkt werden, "weil was wir nicht wollen, ist eine neue Migrationswelle aus Afghanistan".
Gefahr für Leib und Leben
Die Perspektive ist wenig erfolgversprechend. Das Land ist nicht sicher. Rückkehrern und Abgeschobenen droht der Tod. Zuletzt hatte die Diakonie darauf aufmerksam gemacht. Die Deutsche Friederike Stahlmann, langjährige Gutachterin für Afghanistan, auch für die Österreichischen Gerichte, erstellte 2021 eine Studie, die belegt, dass abgeschobenen Afghanen Gefahr für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung droht.
Unter anderem werde ihnen insbesondere auch wegen ihrer Flucht nach Europa "Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten und die Abkehr vom Islam" vorgeworfen. Auch die Familien von Europa-Rückkehrern seien gefährdet.
Kein Familienanschluss
Betroffene Familien versuchen entweder sich zu schützen, indem sie den Kontakt mit den Rückkehrern verweigern, oder Abgeschobene müssen versteckt bleiben. Dieser soziale Ausschluss aufgrund der spezifischen Sicherheitsrisiken macht eine Reintegration oder eine Existenzgründung für Abgeschobene auch unabhängig von der derzeitigen Eskalation der Not nahezu unmöglich.
Den Rückkehrern fehle deshalb vielfach das überlebenswichtige familiäre Netz. Viele von ihnen haben schon lange keine Familie mehr in Afghanistan, weil diese seit Jahren und Jahrzehnten in Nachbarländern wie dem Iran lebe. In Afghanistan machen sich in diesen Tagen indes viele Angehörige schiitischer Minderheiten wie der Hazara neuerlich auf die Flucht.
Neuerliche Flucht oder Tod
Die Studie von Friederike Stahlmann dokumentiert die Erfahrungen von 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen. Bis auf einen Betroffenen haben alle bekannten Abgeschobenen das Land wieder verlassen oder planen dies. Zwei von ihnen haben Suizid begangen.
Die Diakonie fordert: „Wir gefährden sehenden Auges das Leben dieser Menschen durch Abschiebungen nach Afghanistan und setzen sie der Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen und Verelendung aus. Dies ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar. Wir fordern, dass auch Österreich endlich auf die desaströse Sicherheitslage in Afghanistan reagiert und sämtliche Abschiebungen dorthin stoppt. Bereits in Schubhaft befindliche Betroffene müssen umgehend freigelassen werden."
Claudia Gigler