Am Donnerstag haben wir - habe ich - den Rücktritt von Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter als Verfassungsrichter unter anderem mit folgendem Satz kommentiert: „…dass es nicht angeht, die Autorität eines Höchstgerichts von innen heraus zu untergraben, und sei es auch nur in privaten Chats“.

Kritische Leser haben mich in der Folge darauf angesprochen, dass es ein ziemlich harscher Maßstab ist, den ich da anlege. Denn, erstens: Wer hätte sich noch nie einem Freund, einer Partnerin oder sonstwem gegenüber im Vertrauen über seinen Arbeitgeber oder über Kollegen ausgelassen. Und, zweitens: Hat wirklich Brandstetter in seinen Chats mit Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek die Autorität des VfGH untergraben – oder nicht doch eher jene, die diese Chats öffentlich gemacht haben, also wir, die Medien?

Wenn wir einen Schritt zurück machen, geht es um hier eine Frage, die uns bei der Kleinen Zeitung, tatsächlich aber die ganze Republik seit einigen Monaten beschäftigt: Wie weit geht das Recht, dass Unterhaltungen unter zweien vertraulich bleiben? Wie gehen Justiz, Politik und Medien mit dem vielen Material aus solchen Unterhaltungen um, das nach und nach bekannt wird – und schließlich ganz reale Folgen hat, wie jetzt eben den Rücktritt Brandstetters aus dem Höchstgericht oder die Diskussion um die Ermittlungen gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz.

Recht auf Geheimhaltung vs. öffentliches Interesse

Für jeden der Betroffenen, aus deren Chats hier breit zititert wird, ist das extrem unangenehm - ein Teil ihres Lebens, vielleicht sogar ihrer unverstellten Persönlichkeit, der vor versammelter Öffentlichkeit ausgebreitet wird. Wenn man mit solchen Akten arbeitet, kann man gar nicht anders, als dass einem mulmig wird bei der Frage, wie viel davon verbreitet werden kann. Im Kern geht es um eine Interessensabwägung: Auf der einen Seite gibt es das berechtigte Interesse von jedem Menschen, dass seine Kommunikation vertraulich bleibt - jeder von uns braucht seine Freiräume, mit Freunden, Familien und manchmal auch mit Kollegen etwas zu diskutieren, ohne das an die große Glocke zu hängen.

Auf der anderen Seite steht ein ebenso berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit, zu erfahren, wie sich die Spitzen unserer Gesellschaft so verhalten, wenn keiner hinschaut - ob sie auf einer Ferieninsel im privaten Gespräch die halbe Republik verschachern etwa, wie sich Spitzenbeamte Gesetze für ihre eigenen Posten hingezimmert haben oder wie Topjuristen mit unseren Höchstgerichten umgehen. Das ist oft keine eindeutige Abwägung, und wir schlagen manchmal sicher über die Stränge - aber einfache Formeln, eindeutige Antworten gibt es hier nicht.

Am Anfang stand Schmids Handy

Angefangen hat diese Debatte mit dem Handy des heutigen Öbag-Chefs Thomas Schmid. Der war als Generalsekretär und Kabinettschef unter türkis-blau in die Bestellung des (für die Position mäßig geeigneten) FPÖ-Politikers Peter Sidlo in den Casinos-Vorstand involviert. Im Rahmen der Ermittlungen in dieser Sache – einem Seitenstrang der Ibiza-Folgen – kassierte die Staatsanwaltschaft im Herbst 2019 unter anderem Schmids Handy.

Moderne Smartphones enthalten heutzutage praktisch unser ganzes Leben: Termine und Chats, Fotos und Videos, Bewegungsprofile, Unterlagen. Bei der – längst üblichen – Doppelnutzung als dienstliches und privates Gerät eine bunte Mischung aus beruflichen und intimen Daten.

Unter Juristen gibt es eine Debatte, ob es für die Beschlagnahme und Auswertung von Mobiltelefonen nicht längst schärfere Regeln in der Strafprozessordnung bräuchte – analog zur Hausdurchsuchung etwa. Denn abgesehen von alldem, was die Geräte über uns selbst zu erzählen wissen, sind oft auch private Angelegenheiten vieler anderer mit einsehbar: wer nur ein Handy beschlagnahmt, kann ja auch, sagen wir die Nachrichten einer ganzen Whatsapp-Gruppe lesen, in der der Besitzer des Telefons selbst nur passiv mitliest. Die Behörden können so auch an Kommunikation Dritter kommen, die mit den Ermittlungen kaum etwas zu tun hat – eine Möglichkeit, wie es sie praktisch nie zuvor in der Geschichte gegeben hat.

Brisanter „Beifang“ aus solchen Auswertungen kann aber trotzdem verwertet werden, das hat Potenzial zur Uferlosigkeit weit über den Ursprungsverdacht hinaus - und ganz besonders, wenn ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss involviert ist, der den Behörden aufträgt, auch Protokolle zu liefern, die mit dem straftrechtlichen Verdacht gar nichts mehr zu tun haben. Im Fall Pilnacek ist das etwa so: Mit dem (ohnehin dünnen) Verdacht, der Spitzenbeamten und Brandstetter hätten eine Hausdurchsuchung verraten, haben die jüngst publik gewordenen Chats nichts mehr zu tun.

Wenn Chats geliefert kommen

Zurück zu Schmid und der türkisen Regierungstruppe unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), mit der er in engem Kontakt stand. Teile seiner Nachrichten von und an Mitarbeiter, Kollegen in anderen Ministerien und Politiker sind inzwischen Gegenstand politischer Folklore („Tu es für mich“; „Du bist Familie“), nachdem sich die Chats umfangreich in Medien wiederfanden.

Dass Ermittlungsakten an die Öffentlichkeit kommen, hat übrigens in den seltensten Fällen mit „Leaks“ zu tun. Der häufigste Weg führt über die Beschuldigten selbst, die volle Akteneinsicht genießen – und derer gibt es in den Ibiza-Ermittlungen zahlreiche, die noch die eine oder andere Rechnung miteinander offen haben. Ein weiterer Weg führt wie gesagt über den U-Ausschuss, der Akten aus den Ministerien anfordern kann - und wo Geheimhaltungsverstöße eher als Kavaliersdelikt gelten.

Sobald solche Chats in eine Redaktion gelangen, gilt es abzuwägen: Wiegt das Interesse an der Geheimhaltung schwerer - oder ist es wichtig, dass die Missstände, die da dokumentiert sind, an die Öffentlichkeit gelangen?

Eindeutige Antworten sind selten

Ein Idealbeispiel, wie man mit sochen Fragen umgeht, ist die gewissenhafte Auswahl dessen, was die Kollegen von Süddeutscher und Spiegel aus den Ibiza-Unterhaltungen publik gemacht hatten: Nur wenige Minuten aus mehreren Stunden Material wurden veröffentlicht, nachdem monatelang abgewogen worden war, was dokumentierenswert war und was nicht.

Das lässt sich freilich nicht so eindeutig sagen. Ein anderes Beispiel haben wir diese Woche in der Kleine-Redaktion diskutiert: Es ging um neue Auswertungen der Schmid-Chats. Im Gegensatz zu früheren Unterhaltungen, in denen Schmid sich sein Amt zurechtzimmerte und Aufsichtsräte nach „Steuerbarkeit“ bewertet hatte, sahen wir in diesen neuen Chats hauptsächlich Bürotratsch und geschmacklose Witze – jedenfalls nichts Relevantes, wir vermeldeten zunächst nichts in unserer Zeitung. Kollegen in anderen Medien werteten das anders – mit dem Argument, dass seine Äußerungen viel über Schmids Charakter aussagten, was ihn für eine strategische Führungsposition der Republik aus ihrer Sicht disqualifizierte.

Sie brachten die Geschichte also – was wiederum uns unter Zugzwang gesetzt hat. Die Opposition nahm die Chats daraufhin nämlich zum Anlass, neuerlich auf Schmids Rücktritt zu drängen. Wenn ein Chat einmal die politische Sphäre erreicht, ist es praktisch unmöglich, als Zeitung nicht zu berichten: Wollen wir unseren Lesern die politische Debatte darstellen, dazu gehört auch, die Grundlagen zu liefern. Leser hatten uns auch schon geschrieben, warum wir über die neuen Schmid-Chats nicht berichten, über die sie anderswo bereits gelesen hatten. Wir haben uns dann entschieden, den Bericht über die politische Debatte zwei Tage verspätet nachzuziehen.

Ein Dilemma, das unterm Strich wohl zur Folge hat, dass Medien mehr über vertrauliche Unterhaltungen publizieren, als sich zurückzuhalten. Potenziert wird dieser Gruppeneffekt noch durch die neuen parteiischen Medien - die tendenziell noch weniger Skrupel haben, auch irrelevante Chats zu publizieren, wenn es ihrer Seite nützt.

Verstörende Einblicke

Und dann eben die Unterhaltungen von Pilnacek mit Brandstetter und anderen. Wir haben uns zur Veröffentlichung entschieden (ursprünglich berichteten ORF, Standard, Falter und Profil). Dass der ehemals oberste Beamte der Justizverwaltung etwa für eine gute Idee hält, bei einem Landeshauptmann um Unterstützung für die Besetzung einer hohen Richterstelle zu werben, eröffnet einen – verstörenden – Blick hinter die Kulissen des Systems, der auch empörte Reaktionen aus Richterschaft und Politik nach sich gezogen hat.

Bei Brandstetter ist der Fall etwas weniger eindeutig – für uns war der Mangel an Respekt vor dem Amt ausschlaggebend. Was der Höchstrichter mit dem Witzeln über eine „Verlegung des VfGH nach Kuba“ gemeinsam mit dem mächtigen Beamten zum Ausdruck brachte, kontrastiert so stark mit der Wichtigkeit und Erhabenheit des Höchstgerichtes, dass uns die Publikation angebracht erschien.

Vielleicht eine zu harsche Entscheidung in der Abwägung. Kaum jemand kann sich eine Gesellschaft wünschen, in der jeder jederzeit so formulieren muss, als ob seine Gedanken für Hunderttausende sichtbar sind. Andererseits diskutieren hier nicht der Huber Karl und der Meier Hans über ihre politische Meinung austauschen – sondern ein Sektionschef und ein Verfassungsrichter, die beide etwa mit der Debatte um die Sterbehilfe auch dienstlich befasst waren. 

Darüber nachzudenken, ob es stärkeren – richterlichen - Schutz für den hochprivaten Raum am Smartphone braucht, ist jedenfalls hoch angebracht. Und wenn sich der Staub ein wenig gesetzt hat, sollten die Parteien sich auch zusammensetzen und über zusätzliche Sicherungen für den Persönlichkeitsschutz bei U-Ausschüssen nachdenken.

Aber die Abwägung, was ein echter Missstand und damit berichtenswert ist, was nur privates Geschwätz – wird der Justiz, der Politik, uns Medien, und in der Folge Ihnen als Leser nie ganz erspart bleiben.