"Arbeitslosengeld Rauf" - unter diesem Titel startet in Kürze ein Volksbegehren mit Potenzial: Zählt Österreich doch zu jenen Ländern innerhalb Europas mit der geringsten Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld, nämlich 55 Prozent. Der OSZE-Durchschnitt liegt bei 70 Prozent. Die Hälfte der österreichischen Arbeitslosen erhält weniger als 980 Euro pro Monat als Arbeitslosengeld. Die Armutsschwelle liegt bei 1.300 Euro.
Der Zustellungsbevollmächtigte ist ein Christgewerkschafter. Nun beginnt das Sammeln der 8401 nötigen Unterstützungserklärungen. Der Anlass geht mit den Folgen der Pandemie - zwischenzeitlich mehr als 500.000 Arbeitslose - unter die Haut. Über eine eigene Website wird um Unterstützung geworben.
Die breite Basis der Unterstützer birgt das Potenzial für eine mehr als ausreichende Unterstützung für die Behandlung im Parlament: Schwarze und grüne Gewerkschafter kämpfen Seite an Seite mit sozialdemokratischen Arbeitnehmervertretern, die katholischen ArbeitnehmerInnenvertreter sind ebenso an Bord wie die Sozialwissenschafter Emmerich Talos oder die IG-Autoren mit Gerhard Ruis.
Die Forderungen:
- eine Anhebung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe
- keine Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen
- eine Arbeitszeitverkürzung
- Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Bei einer Pressekonferenz begründeten die Proponenten die Unterstützung dieser Forderungen:
Die Armut der Langzeitarbeitslosen
Sozialwissenschaftler Emmerich Talos: Die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit gehöre seit 1920 zu den Kernbereichen des österreichischen Sozialstaates, in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten sei die Nettoersatzrate von 57,9 auf 55 Prozent noch gesunken. Die Arbeitslosenzahl nach der Corona-Pandemie (vor einem Jahr mehr als 570.000) sei immer noch hoch, hoch vor allem auch die Langzeitarbeitslosigkeit (150.000).
Die Forderung der Unternehmervertretung nach einem "degressiven Modell" sei trotz Erhöhung zu Beginn der Arbeitslosigkeit de facto eine Verkürzung auf letztlich nur noch 40 Prozent. "Das ist eine Verschiebung der Debatte von der Diskussion über die Folgen der Pandemie hin zu einer Debatte über die Arbeitsunwilligkeit." Auf die Arbeitnehmer solle noch mehr Druck ausgeübt werden. Eine Langzeitstudie aus den 90er Jahren belege aber: "In Phase 1 kommen die Leute meist noch ganz gut über die Runden, weil sie noch Ressourcen haben. In Phase 2 wurde es eng, in Phase 3 konnten sie sich oft nur noch Kartoffeln zum Essen leisten."
Der doppelte Ausschluss
Gerhard Ruiss (IG-Autoren): "Die Initiative ist überfällig". Er kenne die Arbeitslosigkeit aus eigener Erfahrung - sein erlernter Beruf, jener des Schriftsetzers, ist heute ausgestorben. "Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich da keine Arbeit mehr bekommen." Und wenn Betriebe zusperrten, sei auch keine Kurzarbeit möglich, die in den vergangenen Monaten viele Existenzen gesichert hat. Die Folgen der Arbeitslosigkeit: "Die unmittelbare materielle Zurückstufung, damit einher geht die soziale Verarmung. Ich habe diesen doppelten Ausschluss selbst erlebt."
Es geht nicht nur um die, die schon arbeitslose seien, sondern auch um die, die es noch werden können, und um die Zumutungen für die, die davon bedroht seien. Ruiss ist Neuer Selbständiger, wie viele in der Kulturbranche, "das ist von allen Welten das Schlechteste". Andere, etwa im Theaterbetrieb, seien dank der Gesetze noch angestellt. "Aber ich kenne Opernsänger, denen Bürojobs angeboten werden, wenn sie ihr Engagement verlieren, unter Berufung darauf, dass sie einmal irgendwo einen Ferialjob gemacht haben." Die Perspektive beschränkte sich oftmals auf eine "Endloswarteschleife".
"Vorsätzlich in die Armut gestoßen"
Norbert Bauer, Betriebsrat einer großen Hotelkette in Wien, Christgewerkschafter, KV-Verhandler für die Gastro-Branche: Er ist der Zustellungsbevollmächtigte des Volksbegehrens. "Die Zeit ist reif für das Volksbegehren, der Zug kann nicht mehr aufgehalten werden." Das Hotel, in dem er arbeite, sei seit 14 Monaten zugesperrt. Die Kurzarbeit habe die Leute über Wasser gehalten, manchen drohe jetzt die Arbeitslosigkeit, wenn die Stadthotellerie nicht schnell genug anlaufe. "Ich schaue in Gesichter voll Verzweiflung."
Bauer nannte Zahlen: Ein Hilfsarbeiter in der Gastro-Branche in Wien verdiene monatlich 1.575 Euro brutto, eine Fachkraft 1.688 Euro brutto. "Das Arbeitslosengeld liegt für diese Menschen noch unter den 980 Euro. Das ist unwürdig, die Menschen werden vorsätzlich in die Armut hineingestoßen."
Die "frohe Botschaft": Via Unterstützung auf der Bezirkshauptmannschaft oder, noch einfacher, via Handy-Signatur, könne das Volksbegehren "Arbeitslosengeld rauf" demnächst unterstützt und damit der "Verschwörungstheorie", dass es in Zusammenhang mit Arbeitslosengeld nur um Sozialschmarotzer gehe, auf die der Druck erhöht werden müsse, wirkungsvoll begegnet werden.
Eine Studie der Agenda Austria belegt indes, wie gut der Sozialstaat die Folgen der Pandemie abgefedert hat. Fallen die Corona-Maßnahmen weg, schaut es für Arbeitslose allerdings düster aus.
Der Druck auf die Frauen
Irina Vana, Sozialwissenschaftlerin: Sie ist im "Personenkomitee selbstbestimmtes Österreich" aktiv und stellvertretende Zustellungsbevollmächtigte. Zwei Aspekte sind für sie entscheidend: Die geringe Höhe des Arbeitslosengeldes und die Androhung der Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen. "Da entsteht nicht nur Druck auf die Arbeitslosen, sondern auch auf den Niedriglohnsektor." Denn weniger Arbeitslosengeld bedeutet nicht, dass Menschen schneller Jobs annehmen, sondern dass sie zum Ergreifen schlecht bezahlter Jobs gedrängt werden.
Und die eigenständige Absicherung der Frauen sei in Gefahr. Dem Argument von AMS-Chef Johannes Kopf, wonach das Arbeitslosengeld sich ja um diverse Zuschläge erhöhe, begegnet sie mit Zahlen: Pro Kind beträgt der Zuschlag ganze 79 Cent pro Tag, nicht einmal einen Euro."
Damit kämen Familien, vor allem aber auch Alleinerzieherinnen, sehr leicht weit unter die Schwelle für die Armutsgefährdung. Letztere könnten auch durch die Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen massiv unter Druck kommen. Vana nannte das Beispiel einer alleinerziehenden Kellnerin aus Wien, deren ehemaliger Partner ebenfalls in Wien leben und der ein Job in Tirol angeboten werde. "Die kann sich dann aussuchen, ob sie die Obsorgeberechtigung verlieren will oder das Arbeitslosengeld." Vana: "Ich will eine Politik, die die Arbeitslosigkeit bekämpft, und nicht die Arbeitslosen."
"Risiko nicht ausreichend abgesichert"
Anna Daimler, sozialdemokratische Gewerkschafterin und Generalsekretärin der Dienstleistungsgewerkschaft Vida: "Der Dienstleistungssektor weitet sich aus, wir sind nicht mehr nur das gut verdienende Industrieland. 70 % der Beschäftigten verdienen weniger als 3.000 Euro." Entsprechend niedrig sei dann das Arbeitslosengeld, und das Risiko, während der Arbeitslosigkeit mit dem Geld nicht auszukommen.
Dazu komme, dass in Branchen wie Reinigung oder Bewachung das unternehmerische Risiko auf die Beschäftigten umgewälzt werde, durch kürzere Kündigungsfristen oder die Suche nach Billig-Arbeitskräften im Ausland. "Das Risiko der Arbeitslosigkeit ist zur beruflichen Normalität geworden." Die Betroffenen liefen Gefahr, von einem Tag auf den anderen die Miete, den Strom, die Nachmittagsbetreuung nicht mehr zahlen zu können. "Dieses Risiko ist nicht ausreichend abgesichert."
Daimler nannte das Beispiel einer alleinstehenden Frau, die als Arbeitslosengeld 30 Euro pro Tag, im Monat 843 Euro erhalte. "Laut staatlich anerkannter Schuldnerberatung kostet ein bescheidenes Leben in Österreich im Schnitt 1.426 Euro. Das geht sich nicht aus."
Der soziale Druck
Martin Gstöttner ist Grüner Gewerkschafter und Betriebsrat in einem metallverarbeitenden Betrieb in Oberösterreich. "Die Betroffenen in Branchen, die unter den Corona-Folgen leiden, werden die Verlierer sein." Dabei gehe es auch um Branchen, die wirtschaftlich traditionell gut dagestanden sind. "Wenn die Menschen unfair behandelt werden und unter Druck geraten, dann gerät das ganze soziale Gefüge aus den Fugen."
Die Familien an der Grenze zur Armut
Gabriele Kienesberger ist aktiv in der Katholischen ArbeitnehmerInnenbewegung (KAB). Für sie geht es einerseits um die Menschenwürde der Betroffenen, andererseits um die Solidarität. "Wir wollen ein gutes Leben für alle, da braucht es den Einsatz von allen, und ein klares Hinschauen auf die Realitäten." Es sei "ein Gebot der Stunde, das Arbeitslosengeld zu erhöhen". Ganze Familien seien gefährdet, wenn der Familienerhalter arbeitslos werde. "Wir werden in der katholischen Kirche kampagnisieren und eine erhebliche Anzahl von Menschen erreichen. Es braucht Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen."
Obdachlos: "Wo sollen die alle hin?
Regine Amer vom Verein Hope (Homeless in Europe) spricht als Interessensvertreterin der Obdachlosen das Problem der Wohnungslosigkeit an. "Wenn es noch mehr Kürzungen gibt, können sich noch viel mehr Menschen den Wohnraum nicht mehr leisten. Wo sollen die alle hin?"
Wie sich Biografien verändern können, weiß sie aus eigener Erfahrung: Heute sei sie in Pension, aber am Ende habe sie aus der Arbeitslosigkeit heraus nur noch 750 bis 800 Euro für eine Vollzeitstelle angeboten bekommen, da habe sie früher in Teilzeit mehr verdient. Die Zumutbarkeitsbestimmungen dürften auf keinen Fall verschärft werden. "Die Verantwortlichen sollen einmal ihren Hausverstand einschalten und über die Folgen nachdenken. Sollen die Frauen ihre Kinder und Angehörigen im Rucksack mitnehmen?"
Die Mär von den Arbeitsunwilligen
Johann Zljevic-Salamon schließich leitet einen sozialpädagogischen Betrieb in Oberösterreich mit 70 MitarbeiterInnen, den er aus der Arbeitslosigkeit heraus gründete. "Ich habe schon sehr viele Vorstellungsgespräche geführt. Ich kann mich nicht erinnern, dass je einer bei der Tür hereinkam, der nur einen Stempel abholen wollte", wirkt er der "Mär" von den Sozialschmarotzern und Arbeitsunwilligen entgegen. Er verweist darauf, dass unter den vielen Arbeitslosen auch viele Menschen mit besonderen Bedürfnissen seien, die aufgrund ihrer Behinderung derzeit noch schwerer einen Job bekämen als sonst.
Zljevic-Salamon will eine Mitspracherecht für die Interessensvertretung der Arbeitslosen: "Es ist moralisch und ethisch verwerflich, wenn Leute mit einem Nettoeinkommen zwischen 8.000 und 15.000 Euro entscheiden, dass Menschen mit 950 Euro, übrigens nur 12mal im Jahr, auskommen müssen."
Claudia Gigler