ARMIN THURNHER: Ist das System Kurz gescheitert? Ganz im Gegenteil. Es überzieht die Öffentlichkeit flächendeckend mit dem Wichtigsten, nämlich mit sich. Alle wesentlichen Fragen treten hinter die eine zurück, ob der heilige Sebastian total und hauptsächlich unschuldig ist. Das System Kurz, wie ich es verstehe, ist zuallererst ein Kommunikationssystem einer homogenen politischen Generation, die aufgrund dieser kommunikativen Fähigkeit ihres Kernteams an die Macht kam und nun diese Macht möglichst ungestört unter sich verteilt und festigt.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Das System Kurz, so wie Sie es verstehen, lieber Thurnher, ist die Fortsetzung des Systems Kreisky, Sinowatz, Vranitzy, Klima, Schüssel, Gusenbauer, Faymann, Kern mit den Mitteln von 2021. Es ist nämlich das System Österreich, es schaut immer ein bisschen anders aus, weil wir inzwischen, wie Sie wahrscheinlich gehört haben, Mobiltelefone benutzen. Ob man es mag oder nicht, ist eine ästhetische Frage, und ich kann sehr gut verstehen, dass Ihnen Kreisky besser gefiel, hach, waren das Zeiten. Gescheitert ist das System Österreich schon lange, aber bekanntlich bedeutet das Scheitern eines Systems nicht notwendigerweise, dass es verschwindet, im Gegenteil.
THURNHER: Das System Österreich ist bekanntlich nichts anderes als die Welt im Kleinen, von der kann man also immer sagen, sie sei gescheitert, und sie bewegt sich doch. Das Neue am System Kurz ist tatsächlich seine Homogenität: es unterscheidet sich von den bisherigen (mit Abstrichen vielleicht von der Regierung Schüssel) dadurch, dass es die Inhomogenität im homogenen System Österreich, wenn man das so sagen kann, tendenziell durch totale Homogenität ersetzt. Nicht mehr Sozialpartnerschaft, bündische Zerrissenheit, Medialpartnerschaft (mit den paar üblichen Spielverderbern, ich denke an uns), sondern türkise Einheit: eine Generation, eine Sprache, ein Ziel: eine halbmilde Variante eines Autoritarismus, die man durchaus Trumpismus nennen könnte, das beste aus allen schlechten Welten sozusagen.
FLEISCHHACKER: Der Korporatismus österreichischen Zuschnitts ist, denke ich, schon ein bisschen spezieller als die Welt im Kleinen. Ich muss bei ihrer Beschreibung der zeitgenössischen österreichischen Wirklichkeit an Churchill denken: „Corruption“, hat er gesagt „is a network You do not belong to“. Autoritär sind immer die anderen. Mit dem Autoritarismus, halbmild oder herb, ist so eine Sache. Ich bin jetzt auch schon eine Weile in diesem Beruf, und im Vergleich zu dem, was sich im Zusammenspiel der Helden der Inhomogenität von Operettenföderalismus, Sozialpartnerschaft und öffentlich-rechtlichem Rundfunk und an Demokratie- und Rechtsstaatsverachtung abgespielt hat, erscheint mir der angebliche Trump-Adept Kurz wie ein Ministrant der alten Schule.
THURNHER: Da unterscheiden wir uns, zum Glück, sonst bräuchten wir dieses Format nicht. Zwar hat schon Werner Faymann mit dem Slogan „Genug gestritten“ gepunktet, aber Kurz macht damit erstmals professionellen Ernst. Sein amerikanisch geschultes Message-Hinterzimmer ist in Dichte Qualität und Quantität neu. Andere vor ihm haben Öffentlichkeit missachtet, Medien gekauft und den ORF in Besitz zu nehmen versucht; Kurz war bereit, ihn mit der FPÖ als relevantes Medium abzuschaffen. Andere vor ihm haben die Justiz zu vereinnahmen versucht, Kurz diskreditiert sie als System. Andere vor ihm haben auf Parteiloyalität gesetzt, Kurz hat sein Team, das nicht Qualifikation kennt, sondern – bis auf ein, zwei Feigenblätter – nur die Solidarität der Generation Kurz. Kompetenz, dein Name ist Aschbacher.
FLEISCHHACKER: Ich mag Ihre Verklärung der Vergangenheit ja auch deshalb, weil ich vielleicht auch bald in das Alter komme, in dem früher immer alles besser war. Noch bin ich aber davon überzeugt, dass es früher anders war und dass mir viele Aspekte dieser Andersheit sehr viel sympathischer sind als viele Aspekte des Zeitgenössischen. Aber ich glaube, es wäre fast so etwas wie Verrat am intellektuellen Kanon, dem wir uns wohl beide auf eine gewisse Weise verpflichtet fühlen – obwohl ich, wie Sebastian Kurz, Studienabbrecher bin –, sich aus ästhetischem Abscheu gegenüber den Erscheinungen der Gegenwart die Qualität und Qualifikation der Repräsentanten der Vergangenheit (Faymann? Bures? Hesoun? Hundstorfer?) schönzuschreiben.
THURNHER: Also, erstens teile ich in solchen Fälle ein Zitat von Karl-Kraus mit, hier abgewandelt: „Ich muss den Ästheten eine niederschmetternde Mitteilung machen: Alt-Österreich war auch einmal neu.“ Ich spüre zweitens keinerlei Nostalgie, ich versuche nur, zu analysieren. Kurz führt einen medial getragenen Autoritarismus Light ein, der in Kauf nimmt oder beabsichtigt, zur Absicherung seiner Macht sogenannte demokratische Grundpfeiler zu attackieren: die Justiz, die demokratische Öffentlichkeit. Zudem führt er außenpolitisch – nicht zuletzt für persönliche Zwecke – Österreich in unerfreuliche neonationalistische Zusammenhänge. Und das alles auf eine Weise, die Reste öffentlicher Vernunft durch Manipulation, Informationsunterdrückung und homogenisierte Einheitssprache zu ersticken versucht. Seine Leute gleichen Sprechpuppen, die Kurz-Sprechblasen absondern, alle die gleichen. Der Dilettantismus vor ihm war nicht besser, er ließ mir nur mehr Luft.
FLEISCHHACKER: Ich fürchte, im Grunde machen Sie es wie er. Sie sagen nicht, dass sie Sachverhalte anders bewerten als der Kanzler, dass Sie seine Analyse in dieser oder jener Sache für falsch halten, dass Sie mit dieser oder jener außenpolitischen Positionierung nicht einverstanden sind, sondern Sie unterstellen ihm moralische Defizite und antidemokratische Bedürfnisse. Sich kritisieren nicht, Sie verachten, und dabei vergessen oder verdrängen Sie, was Stanislaw Jerzy Lec so schön gesagt hat: Wir neigen dazu, uns die schlechtesten Eigenschaften derer anzueignen, die wir am Inbrünstigsten bekämpfen.
THURNHER: Ach, die Moral noch. Nein, ich beschreibe nur das System Kurz. Die Frage war, ob es erfolgreich ist, und ja, damit haben Sie Recht, Debatten wie diese bestätigen den Erfolg dieses Systems, denn politische Inhalte existieren darin nur in Form eines vagen, in der Umsetzung dilettantischen Neoliberalismus. Von der Außenpolitik (EU) über Wirtschaft (Kaufhaus Österreich) bis zu Finanz (totale Intransparenz, entschlossene Umverteilung nach oben) könnte man da sehr ausführlich werden. Das System Kurz erstickt politische Debatten, zerstört ihre Voraussetzungen, indem es Feindmedien attackiert, und ersetzt das politische Gespräch durch die Frage: Wollt Ihr euren Kanzler? Antwort: unkritisches Hosianna. Fragen politischer Verantwortung sind damit entsorgt. Aber sonst habe ich eh keine Sorgen.
FLEISCHHACKER: Die Frage war, ob das System Kurz am Ende ist, und wenn ich uns richtig verstanden habe, sagen wir beide: Nein. Allerdings bedrückt Sie das, und mir ist es egal, weil sich für mich das System Kurz nicht substanziell von allen anderen Varianten des Systems Österreich unterscheidet.