Österreich und Tirol: Das ist ein ständiges gegenseitiges Missverständnis. Sie sind so verschieden wie Sebastian Kurz und Günther Platter – der effizienzbesessene Erneuerer und der prozessorientierte Bewahrer. Sie erscheinen so unterschiedlich wie Türkis und Schwarz – die Kommunikationsmaschine und das Werthaltungsrefugium. Sie wirken einander so ähnlich wie die neue und die alte Volkspartei – auf Gedeih und Verderb ihren Chefs ausgeliefert. So wie sie im Bund ohne Kurz im Nirwana wäre, läge sie im Land ohne Platter im Nirgendwo. Das Ergebnis ist hier wie dort die extreme Abhängigkeit von nur einer Person, obwohl Habitus und Handlungsweisen dieser Obmänner kaum konträrer sein könnten. Was beim Bundeskanzler leichtfüßig wirkt und offensichtlich ist, erscheint beim Landeshauptmann schwerfällig und verborgen. Der Vergleich des 34-jährigen Wieners mit dem 66 Jahre alten Tiroler erinnert aber auch an das Grimm’sche Märchen „Der Hase und der Igel“. Während der Flinke noch auf Hochtouren sprintet, wartet – vermeintlich – der Behäbige schon im Ziel.
Günther Platter ist schon einige Marathons gelaufen. Der heimatkundige Norbert Rief erinnert endlich in seinem Porträt für die „Presse am Sonntag“ daran, während Fernbeobachter sonst lieber durch Erwähnung des Gitarristen in der etwas eigenartig benannten Rockband „Satisfaction of Night“ ihre biografische Nähe demonstrieren. Der Dauerlauf charakterisiert den gelernten Buchdrucker und späteren Gendarmen aber deutlich besser. Platter hat immer wieder als politische Personifizierung jenes Peter-Prinzips gegolten, laut dem jemand in Hierarchien so lange befördert wird, bis er eine Aufgabe erhält, für die er inkompetent ist. Diese Einschätzung betraf noch nicht den Gemeinderat und Bürgermeister von Zams sowie Abgeordneten zum Nationalrat. Der Exekutiv- und Wehrsprecher war authentisch. Als Landesrat für Schule und Kultur hingegen wirkte er fehlbesetzt. Doch er nahm den Vorab-Kritikern nicht nur Wind aus den Segeln, sondern empfahl sich durch eine nahezu tadellose Amtsführung für höhere Weihen. Für diese verblüffende Performance hatte Platter gegenüber den wichtigsten Stakeholdern offensiv seine Unkundigkeit im Detail thematisiert und dann viel zugehört.
Diese außergewöhnliche Beratungsfähigkeit katapultierte ihn im Nu zur LH-Reserve mächtiger Kreise, die den ÖVP-Obmann Ferdinand Eberle als designierten Nachfolger von Wendelin Weingartner nicht mehr halten konnten und einen auf diesen Posten drängenden Parteirenegaten, den Innsbrucker Bürgermeister Herwig van Staa, verhindern wollten. Aber der Schwiegersohn des legendären Landeshauptmanns Eduard Wallnöfer setzte sich durch. Sein Gegenkandidat Platter musste weichen. Böse Beobachter in Tirol nannten es respektlos „Nach Wien entsorgt“, was offiziell den Titel Verteidigungs- und dann Innenminister trug.
Dass das glatte Hauptstadtparkett nicht sein Metier ist, war ab dem ersten Medienauftritt deutlich. Doch er war Schlimmeres gewohnt – den Führungskampf daheim als Schlacht von Shakespeare’schem Tragödienformat. Der Instinktpolitikermit beachtlichem Strategiegespür hat ihn politisch überlebt. Van Staa musste 2008 nach einer weiteren Parteispaltung durch den einstigen AK-Präsidenten Fritz Dinkhauser gehen. Platter kehrte im Triumph zurück. Heute ist er der aktuell längst dienende Landeshauptmann – in Tirol nur noch durch Wallnöfer übertroffen – und der letzte aktive Spitzenpolitiker aus der ersten schwarz-blauen Bundesregierung.
Wenn Günther Platter zur Jahresmitte den Vorsitz der LH-Konferenz von Hermann Schützenhöfer übernimmt, ergibt das ein stimmiges Bild. So unterschiedlich ihre Laufbahnen auch sind, verkörpern der Tiroler und der Steirer heute als Einzige den Archetypus des österreichischen Landeshauptmanns. Allenfalls Hans Peter Doskozil könnte wieder solch einer werden. Die anderen wirken so anders wie Elektroautos neben Dieselfahrzeugen. Diese rustikale Art wird leicht unterschätzt.
Insbesondere Platter widerfährt dies immer wieder. In dieser Position aber fühlt er sich am wohlsten. Da können sie ruhig höhnen, dass er den heimischen Fußballstar David Alaba mit „How do you do“ begrüßt hat. 2013 holte die ÖVP unter ihm trotz ihrer weiteren Zersplitterung fast 40 Prozent. Seit 2018 hat sie gar 17 der 36 Landtagsmandate und weiß insgesamt, was sie an ihrem „Günni“ hat. Wenn externe Beobachter sich darüber amüsieren, dass er nach 14 Monaten voller Pleiten, Pech und Pannen sagt, „es kann nicht besser laufen, was die Regierungsumbildung betrifft“, übersehen sie, dass dieser Austausch Platter intern stärker macht denn je. Toni Mattle, der neue Wirtschaftslandesrat aus dem noch hinter Ischgl liegenden Galtür, ist vor allem ein anständiger Kerl und in zweiter Linie ein treuer Vasall. Annette Leja, die heute das Gesundheitsressort übernimmt, hat als Quereinsteigerin aus dem Privatklinik-Management keine Parteihausmacht. Beide stammen aus dem Wirtschaftsbund. Dessen Vizechef Christoph Walser muss Kammerpräsident bleiben. Er war seit dem Luder-Sager des früheren Favoriten Josef Geisler als kommender Landeshauptmann gehandelt worden.
Platter stellt damit aber nicht nur einen möglichen Rivalen vorerst kalt. Er lässt weiter zu, was seit 15 Jahren infolge des schwarzen Erbfolgezwistes geschieht: Tirols Wirtschaftspolitik ist weniger eine Angelegenheit der Regierung als ein Lobbying-Ergebnis der Kammer. Sie aber geriet seitdem immer mehr unter den Einfluss des Tourismus. Dieser wiederum ist ein Ressort des Landeshauptmanns. Im Gegensatz zu Sebastian Kurz, der sich mit Arbeitsminister Martin Kocher ein ökonomisches Experten-Schwergewicht ins Team geholt hat, setzt Günther Platter lieber auf unbedingte Gefolgschaft. Damit gewinnt er persönliche Macht, geht aber das größtmögliche Risiko für das Land ein. Denn nicht erst seit der Pandemie braucht Tirol eine neue Wirtschaftsstrategie mit Alternativen zum Tourismus.
Platter kann sich den Drahtseilakt noch leisten, weil er persönlich auch von den anderen Parteien ungefährdet ist. Seine Stellvertreterin Ingrid Felipe hat soeben mit einem Paukenschlag alle Funktionen bei den Grünen zurückgelegt. Der rote Hoffnungsträger Georg Dornauer, dem einst ähnliches Potenzial wie Kurz zugesprochen wurde, ist von seinen Selbstbeschädigungen noch nicht ausreichend erholt. Der blaue Markus Abwerzger wirkt zerrissen zwischen den konträren Kursvorgaben seiner Bundespartei. Die Neos entwickeln sich unter Dominik Oberhofer zwar ähnlich gut wie die Liste Fritz unter Dinkhausers Nachfolgerin Andrea Haselwanter-Schneider, aber eine Machtperspektive ohne Regierungsführung durch die ÖVP zeichnet sich auch für die Landtagswahl 2023 nicht ab. Das liegt – wie im Bund dank Sebastian Kurz – aber weniger an der Partei, sondern vor allem an jenem Günther Platter, den sie außerhalb von Tirol oft nicht für voll nehmen. Durch den Vorsitz der Landeshauptleutekonferenz in 50 Tagen bleiben er und das Land weiter in der Auslage.