Im Gegensatz zu Bundeskanzler Sebastian Kurz und Arbeitsminister Martin Kocher (beide ÖVP) hat sich Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) für die EU-Mindestlohn-Richtlinie ausgesprochen. In einem offenen Brief mit grünen Ministern in Irland, Luxemburg, Finnland und Belgien zum bevorstehenden Sozialgipfel in Porto unterstützt Mückstein die Forderung, dass alle Arbeitnehmer "über die EU-Mindestlohn-Richtlinie für ihre Arbeit angemessen entlohnt werden".
Der EU-Sozialgipfel in Porto müsse anerkennen, "dass soziale und ökologische Nachhaltigkeit komplementäre Ziele sind", heißt es in dem offenen Brief weiter. Die grünen Minister fordern auch, dass sich die Europäische Union das Ziel setzt, Obdachlosigkeit bis spätestens 2030 zu beenden. "Mit mindestens 700.000 Menschen in der Europäischen Union, die nicht einmal ein Zuhause haben, müssen ehrgeizige Schritte gesetzt werden", heißt es in dem Schreiben.
Weitere Forderungen der Grünen umfassen gleichen Lohn durch eine Lohntransparenzinitiative, die Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Gewalt gegen Frauen, den Einsatz gegen Kinderarmut, Maßnahmen gegen Lohndumping in der EU und gemeinsame europarechtliche Schritte sowie verbindliche Ziele für öffentliche Investitionen in erschwinglichen Wohnraum und Mietkontrollen.
Kocher gegen Mindestlohn
Arbeitsminister Kocher und seine zuständigen Ministerkollegen und -kolleginnen aus Dänemark, Estland, Ungarn, Irland, Malta, Niederlande, Polen und Schweden hatten dagegen gefordert, dass die EU-Mindestlohn-Richtlinie nur eine Empfehlung enthalten sollte. Österreich sehe den Vorschlag kritisch, weil er die historisch gewachsene sozialpartnerschaftliche Struktur in Österreich gefährde, zumal dessen mögliche Auswirkungen auf die österreichische Lohnfestsetzung nicht absehbar seien, hieß es auch aus dem Bundeskanzleramt. Der Vorschlag stehe außerdem nicht in Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip und der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten.
Die EU-Kommission betont jedoch, sie wolle keine konkreten Löhne festsetzen, sondern dies den Tarifverhandlern in den Mitgliedstaaten überlassen.Aus diesem Grund spricht sich auch der ÖGB mit Präsident Wolfgang Katzian für die Richtlinie aus - es gehe darum, all jene Bereiche unter Druck zu setzen, die nicht durch Kollektivverträge geregelt sind, innerhalb und außerhalb Österreichs.
Die EU-Behörde verfolgt mit ihrem Richtlinienentwurf das Ziel, dass Geringverdiener überall in der EU mindestens 50 Prozent des Durchschnittslohns oder 60 Prozent des sogenannten Medianlohns im eigenen Land bekommen. Der Median wird auch mittlerer Lohn genannt und ist eine Rechengröße: 50 Prozent der Arbeitnehmer verdienen mehr, 50 Prozent weniger. In Österreich sind der Großteil der Arbeitsverträge kollektivvertraglich geregelt.
"Türkis grüne Kindergartenpartie"
Die SPÖ bezeichnete die türkis-grünen Meinungsverschiedenheiten inbezug auf den EU-Sozialgipfel als "Farce auf dem Rücken europäischer Arbeitnehmerinnen". SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch sprach in einer Aussendung am Freitag von einer "türkis-grüne(n) Kindergartenpartie, die sich Bundesregierung nennt". "Zuerst sperrt die ÖVP den grünen Sozialminister Mückstein vom EU-Sozialgipfel aus. Dann richtet dieser dem türkisen Kanzler von Wien nach Porto aus, dass Österreich eine zynische und arbeitnehmerfeindliche Position vertritt", kommentierte Deutsch die Vorgänge aus Sicht der größten Oppositionspartei.
Die Armutskonferenz forderte die Regierung am Freitag auf, konkrete Umsetzungspläne für den sozialen Zusammenhalt zu unterstützen und ihre Blockade zu beenden. Entgegen der Verlautbarungen der Regierung würden die Mindestlohn-Vorschläge sehr wohl europaweite soziale Grundrechte mit den sozialpolitischen Besonderheiten der Nationalstaaten verbinden, teilte das Netzwerk von über 40 sozialen Organisationen in einer Aussendung mit. "Wir müssen von diffusen Erklärungen zu klaren Maßnahmen kommen, die soziale Rechte und den europäischen "Social Pillar" konkret umsetzen", so die Forderung der Armutskonferenz, die auch die Nicht-Teilnahme Mücksteins am EU-Sozialgipfel kritisierte.
"Schicksalsfrage für Europa"
"Die soziale Frage ist die Schicksalsfrage für Europa", betonte AK-Präsidentin Renate Anderl in einer Aussendung am Freitag. Jetzt müsse das in der Gipfelerklärung enthaltene Versprechen der Staats- und Regierungschefs, auf ein soziales Europa hinzuarbeiten, mit konkreten Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene eingelöst werden, forderte Anderl. "Setzen wir mit dem Sozialgipfel und der Konferenz zur Zukunft Europas das Startsignal, damit Europa der erste Kontinent wird, in dem es gute und fair bezahlte Jobs für alle Menschen gibt und verbannen wir Armut in die Geschichtsbücher", so die AK-Präsidentin.
Auch der Vorsitzende der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen (FSG), Rainer Wimmer und die SPÖ-EU-Abgeordnete Evelyn Regner unterstützen die Forderung nach der Umsetzung der EU-Mindestlohnrichtlinie, da "auch Österreich in hohem Ausmaß" davon profitieren würde. "Sich dagegen zu wehren, dass alle ArbeitnehmerInnen in ganz Europa zumindest einen existenzsichernden Lohn erhalten, wirft ein bezeichnendes Licht auf die ÖVP", sagten sie in einer gemeinsamen Aussendung.